Im Angesicht multipler ökonomischer und sozialer Herausforderungen, hat das Thema Nachhaltigkeit in den vergangenen Monaten deutlich an Attraktivität und auch Reputation einbüßen müssen. Ein Hauptgrund: Die Komplexität der regulatorischen Anforderungen scheint die Industrie merklich zu belasten, momentan stehen andere Maßnahmen weiter oben auf der unternehmerischen Agenda.
Es herrscht hierzulande vordergründig zudem der Eindruck, dass in den börsennotierten Unternehmen die Themen Umwelt und Soziales, also das E und S von ESG, überbetont werden. Aber: der Schein trügt. Viele Fakten rund um das E und das S lassen sich lediglich konkret(er) messen – und damit auch bewerten. Basis ist aber immer eine gute Unternehmensführung (Governance) und damit das „G“ in ESG. Das „G“ ist letztlich die Grundlage für alles und damit auch für eine fundierte Adressierung der Aspekte Umwelt sowie Soziales.
Der Deutsche Corporate Governance Kodex als freiwillige Selbstverpflichtung enthält bereits viele wichtige Grundsätze, Empfehlungen und Anregungen für den Vorstand und den Aufsichtsrat, die dazu beitragen sollen, dass die Gesellschaften im nachhaltigen Unternehmensinteresse und mit Blick auf alle Stakeholder geführt wird. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren zu Governance und Compliance viele neue Regeln auf den Weg gebracht, die umgesetzt werden müssen.
Die Unternehmen tun sich dabei aber bisweilen schwer. Die Absicht der Regulatorik im Bereich der Umwelt und des Sozialen ist es, Dinge besser zu machen. Dieser Ansatz verfängt allerdings bei der Governance nicht immer. Hier gilt gerade mit Blick auf die Compliance, dass man es entweder gut, also richtig, oder eben falsch macht.
Vorstand und Aufsichtsrat in der Pflicht
Als Mitglied der Kommission Deutscher Corporate Governance Kodex bekomme ich unmittelbar mit, welchen Diskussionsbedarf es auf Unternehmensseite tatsächlich gibt. Da geht es oft um Details bei der Anwendung oder Durchführung einzelner Punkte – zum Beispiel rund um das Risikomanagement-System. Die neuen Regeln sorgen für mehr Transparenz, auch im Governance-Bereich. Zugleich führt dies dazu, dass viele Unternehmen ihr Risikomanagement-System neu aufstellen müssen, weil sie etwa ihre Nachhaltigkeitsrisiken zuvor separat erfasst haben. Sie stehen nun vor der Aufgabe, diese Risiken in ein integriertes System zu überführen. Mit diesem Zusammenführen haben die betroffenen Firmen nach meinen Beobachtungen sehr viel Arbeit vor sich. Denn egal, ob Reporting, Jahresprognose, Unternehmensstrategie – überall spielt das Thema Nachhaltigkeit eine gewichtige Rolle. Viele Betriebe tun sich mit der anstehenden Aufgabe daher sehr viel schwerer, als wir das zu Anfang gedacht haben. Vorstand und Aufsichtsrat sind voll gefordert.
Nachhaltigkeit: Eine Bestandsaufnahme
Mit der neuen Nachhaltigkeitsrichtlinie CSRD ergibt sich die Chance, innerhalb eines Unternehmens eine fundierte Bestandsaufnahme in Sachen Nachhaltigkeit umzusetzen. Im Idealfall wird dann nachvollziehbar, wie Datenpunkte zur Nachhaltigkeit zum Beispiel in die Strategie oder die Wesentlichkeitsanalyse einbezogen werden. Oftmals bedeutet das für das Management erst einmal sehr viel (Mehr)Arbeit, die zu allen anderen Aufgaben und neben dem Tagesgeschäft bewältigt werden muss. Vor diesem Hintergrund werden häufig – trotz regulatorischer Vorgaben – Diskussionen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat über den konkreten Nutzen dieser „Nachhaltigkeitsinventur“ geführt.
In diesem Spannungsfeld ist es eine Kernaufgabe der Unternehmensführung, ein solches Projekt in einen echten Mehrwert für das Unternehmen zu verwandeln. Aus der Belastung durch die erhöhte Transparenz wird dann ein echter Vorteil zum Nutzen aller.
Bürokratiemonster oder richtiger Weg zur Klimaneutralität?
Ich erlebe durchaus Unternehmen, die Nachhaltigkeit als Gamechanger begreifen. Manche Unternehmen hinken aber auch deutlich hinterher – obwohl sie seit Jahren wussten, was auf sie zukommt. Grundsätzlich ist es wenig sinnvoll ist, alle möglichen Datenpunkte, die irgendwie abgefragt werden könnten, zusammenzuziehen und in einen Nachhaltigkeitsbericht zu präsentieren. Diese Informationsfülle kann kaum jemand verarbeiten oder konstruktiv analysieren.
Der konstruktive Teil der Nachhaltigkeit und der Nachhaltigkeitsberichterstattung liegt darin, dass sich Unternehmen mit sich selbst beschäftigen und über eine ehrliche Analyse die Punkte identifizieren, zu denen sie dann auch berichten, weil es eben diejenigen sind, die für ihre individuell positive Unternehmenszukunft entscheidend sind.
Die Unternehmen können sich also selbst entlasten, indem sie ihre Hausaufgaben machen und herausfinden, was eigentlich die relevanten Wirkungsebenen im Bereich Nachhaltigkeit für sie sind. Wenn man dieses Prozedere gewissenhaft durchführt, erhält das Thema Nachhaltigkeit eine deutlich konstruktive Komponente.
Ein Beitrag von Marc Tüngler
Er ist Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. (DSW) und ist ein profunder Kenner des deutschen Aktienmarktes. Als Redner und Aktionärsvertreter auf vielen Hauptversammlungen weiß er um die Befindlichkeiten von Vorständen und Aktionären.
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