Nachhaltigkeit ist allgegenwärtig – ob bei Produkten, Dienstleistungen oder Lebensstilen. Doch wie nachhaltig ist unser Alltag wirklich? Ist das grüne Label mehr als ein Trend oder bloß ein schickes Verkaufsargument, das en Vogue ist?
Auch in der Finanzbranche ist das Thema längst angekommen. Mit den drei großen Buchstaben ESG. Beim Begriff ESG (Environmental, Social, Governance) handelt es sich um Kriterien, die bei der Bewertung von Unternehmen und Investitionen berücksichtigt werden, um Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung zu fördern. Im Zentrum steht der Gedanke, dass Unternehmen und Finanzprodukte nachhaltige Praktiken verfolgen und gute Governance-Strukturen haben, langfristig erfolgreicher sind und weniger Risiken für Anleger darstellen.
Die Bedeutung von ESG und Nachhaltigkeit
In den vergangenen Jahren haben ESG-Kriterien zunehmend an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt aufgrund der steigenden Erwartungen von Investoren, dass Unternehmen ihre Umweltauswirkungen minimieren, gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und ethisch geführte Governance-Strukturen etablieren. In der Finanzbranche sind nachhaltige Investments nicht mehr nur ein Nischenprodukt, sondern werden immer häufiger als Standard angesehen. Investoren achten vermehrt darauf, ob Unternehmen Umweltschutzmaßnahmen ergreifen, faire Arbeitsbedingungen bieten und über transparente und ethisch korrekte Managementprozesse verfügen.
ESG-Investitionen werden als Beitrag zur Lösung globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel, sozialer Ungleichheit und Korruption angesehen. Dies führte zu einem Boom von Fonds und Investmentprodukten, die diese Kriterien in den Vordergrund stellen.
Besonders Fonds, die sich auf erneuerbare Energien oder soziale Projekte konzentrieren, haben einen erheblichen Kapitalzufluss erlebt. Viele institutionelle Investoren, darunter Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften, haben ihre Portfolios entsprechend angepasst.
Das Kapital fließt …
In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Kapitalvolumen, das in ESG-Produkte investiert wurde, stark erhöht. Diese Entwicklung wurde durch mehrere Faktoren begünstigt, darunter das zunehmende Bewusstsein für Nachhaltigkeit, strengere regulatorische Anforderungen und das wachsende Interesse der Investoren an verantwortungsvollen Anlagen.
Und es fing schon früh an: Zwischen 2010 und 2020 stiegen die Investitionen in ESG-Produkte exponentiell an. Während ESG-Investitionen zu Beginn der 2010er-Jahre noch ein Nischenprodukt waren, hat sich das Bild in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Beispielsweise verzeichneten europäische ESG-Fonds im Jahr 2020 ein Rekordwachstum, und die globalen ESG-Fonds verwalteten zu diesem Zeitpunkt über 1 Billion US-Dollar an Vermögenswerten.
Der ESG-Markt erreichte 2021 einen wichtigen Wendepunkt. Laut einer Studie von Morningstar überstiegen die weltweiten Nettozuflüsse in ESG-Fonds allein im Jahr 2021 120 Milliarden US-Dollar. Dies war eine Verdreifachung im Vergleich zum Vorjahr, was zeigt, wie schnell sich das Kapitalvolumen entwickelt hat. Institutionelle Anleger wie Pensionsfonds und Versicherungen trugen maßgeblich zu diesem Wachstum bei, da sie zunehmend ESG-Kriterien in ihre Anlagestrategien integrierten.
Es wird erwartet, dass bis 2025 rund 50 Prozent aller in Europa verwalteten Vermögenswerte ESG-Kriterien berücksichtigen werden. Dies spiegelt sich auch in der Schaffung spezifischer ESG-Benchmarks wider, wie dem MSCI ESG Index und dem FTSE4Good Index, die als Vergleichsmaßstäbe für ESG-Investitionen dienen.
Obwohl Europa der Vorreiter im Bereich ESG-Investitionen war, haben auch die USA und Asien seit 2020 erhebliche Fortschritte gemacht. In den USA erreichten die ESG-Investitionen im Jahr 2021 fast 17 Billionen US-Dollar, was etwa einem Drittel des gesamten verwalteten Vermögens entsprach. In Asien, insbesondere in Japan, stieg das ESG-Kapitalvolumen ebenfalls deutlich an, da die dortigen Pensionsfonds und institutionellen Investoren ESG-Kriterien in ihre Portfolios aufnahmen. Dies ist auch bei uns in Deutschland immer stärker der Fall. Institutionelle Investoren wie Versicherungen oder Pensionskassen hierzulande setzen immer mehr auf Nachhaltigkeit. Dies geht aus der diesjährigen Nachhaltigkeitsstudie von Union Investment hervor, für die knapp 200 institutionelle Investoren in Deutschland mit einem verwalteten Vermögen von rund sechs Billionen Euro befragt worden sind.
Der Anteil der Befragten, die bei ihren Anlagenentscheidungen Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigen, hat mit 85 Prozent den zweithöchsten Wert seit Beginn der jährlichen Investorenbefragung im Jahr 2010 erreicht. Allerdings ist gegenüber dem Vorjahr ein Rückgang um sechs Prozentpunkte zu verzeichnen. Derzeit macht der Anteil der Assets, bei denen die Investoren Nachhaltigkeitskriterien anwenden, 67 Prozent des verwalteten Gesamtvermögens aus und ist damit im Vorjahresvergleich um fünf Prozentpunkte gesteigert worden. Bei Stiftungen und Kirchen beträgt der Anteil sogar 93 Prozent. „Nachhaltigkeit ist für Investoren kein Schönwetter-Thema. Zumal die nachhaltige Transformation einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, Deutschland und Europa krisenfester und wettbewerbsfähiger zu machen“, sagt André Haagmann, Vorstandsmitglied von Union Investment mit Zuständigkeit für institutionelle Kunden.
Die liebe Regulierung
Strengere regulatorische Anforderungen, wie zum Beispiel die EU-Offenlegungsverordnung (Sustainable Finance Disclosure Regulation – SFDR), haben dazu beigetragen, dass das Kapital in ESG-Produkte gelenkt wurde. Unternehmen und Finanzdienstleister sind nun verpflichtet, ihre Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen offenzulegen, was die Transparenz und das Vertrauen in ESG-Produkte weiter stärkt.
Zu naiv ist nicht gut …
Hört sich alles gut und sicher an. Ist es aber nicht. Trotz des wachsenden Interesses an ESG gibt es zahlreiche Risiken, die Anleger und die Finanzbranche insgesamt berücksichtigen müssen. Manches könnte eine Mogelpackung sein, denn nicht alle ESG-Investments halten immer, was sie versprechen:
Ein zentrales Problem ist die mangelnde Standardisierung von ESG-Kriterien. Da es keine allgemein anerkannten Standards gibt, wie ESG-Faktoren bewertet und offengelegt werden sollten, variieren die Definitionen und Bewertungen stark.
Selbst der BVI, der Lobbyverband der Fondsgesellschaften gesteht ein: „Die EU-Gesetzgeber haben zwar eine Flut von Detailregelungen verabschiedet, aber bisher keine allgemein gültigen Definitionen dafür festgelegt, was ein nachhaltiges Produkt ausmacht. Die EU-Taxonomie und die Offenlegungsverordnung (SFDR) regeln bisher lediglich Transparenzpflichten.
ESG-Ratings sollen aber eigentlich helfen, die Nachhaltigkeit von Unternehmen zu bewerten. Doch diese Ratings variieren je nach Anbieter erheblich. Unternehmen, die bei einem Rating-Anbieter gut abschneiden, können bei einem anderen schlecht bewertet werden – eben weil die Bewertungskriterien nicht einheitlich sind und oft subjektiv interpretiert werden. Für Anleger wird es dadurch schwierig, fundierte Entscheidungen zu treffen. Zudem sind viele ESG-Daten selbstberichtend, was die Möglichkeit von Manipulationen erhöht.
Ein weiteres Risiko ist das sogenannte „Greenwashing“. Unternehmen, die den steigenden Druck zur Nachhaltigkeit spüren, neigen dazu, ihre ESG-Leistungen zu übertreiben oder sogar falsche Angaben zu machen, um umweltbewusste Investoren anzuziehen. Dies kann zu erheblichen finanziellen und Reputationsschäden führen, wenn sich herausstellt, dass diese Unternehmen ihre ESG-Versprechen nicht einhalten. Der Selbstbetrug von Anlegern liegt oft darin, dass sie diesen falschen Versprechungen Glauben schenken und in scheinbar nachhaltige Unternehmen investieren, ohne ausreichende Nachforschungen anzustellen.
Immerhin im Bereich der Fonds tut sich was: Gegen potenzielle Grünfärberei hat die EU-Behörde ESMA im Mai 2024 Leitlinien für ESG- oder nachhaltigkeitsbezogene Zusätze in Fondsnamen veröffentlicht. Die Leitlinien sollen helfen, irreführende Fondsbezeichnungen zu verhindern. „Für die Nutzung nachhaltigkeitsbezogener Wortbestandteile wie ‚ESG´, ‚nachhaltig´ und ‚Impact´ hat die ESMA eine Mindestschwelle von 80 Prozent der Investitionen festgelegt, die zur Erreichung ökologischer, sozialer oder nachhaltiger Merkmale bzw. Anlageziele dienen sollen,“ schreibt der BVI. Die Leitlinien enthalten demnach auch einheitliche Ausschlusskriterien für verschiedene Begriffe, die in Fondsnamen enthalten sind.
Dennoch: Der Vorwurf des Greenwashing ist nicht vom Tisch. Nicht selten stellen Unternehmen oder Fonds ihre Aktivitäten als nachhaltiger dar, als sie tatsächlich sind. Dies führt dazu, dass Anleger denken, sie investieren in nachhaltig agierende Unternehmen, obwohl dies nicht der Realität entspricht. Ein Beispiel hierfür sind Unternehmen, die geringe CO₂-Emissionen vorweisen, aber in fragwürdigen Arbeitsverhältnissen tätig sind.
Der BVI weiter: „Es bleibt ein großer Auslegungsspielraum mangels eindeutiger Vorgaben des Regulators. Schwierigkeiten bereitet unter anderem die Bestimmung der Nachhaltigkeitsquoten auf Fondsebene, denn es fehlen verbindliche, einheitliche Berechnungsmethoden.“ Das könne dazu führen, dass Produkte, die eine ähnliche Investmentstrategie verfolgen, deutlich abweichende Anteile nachhaltiger Investitionen ausweisen. „Dies erschwert das Verständnis beim Berater und Anleger und macht die Anlageberatung zur Nachhaltigkeit sehr komplex“, kritisiert der BVI. Klare Standards und die Einführung von Produktkategorien zur Nachhaltigkeit könnten auch hier in Zukunft Abhilfe schaffen.
Der Selbstbetrug der Anleger
Ende des ersten Quartals 2024 hielten deutsche Anleger 977 Mrd. Euro in Fonds gemäß Artikel 8 (Finanzprodukte, die ökologische oder soziale Merkmale fördern) und 9 (Finanzprodukte, die explizit nachhaltige Investitionsziele haben) der EU-Offenlegungsverordnung. Rund drei Viertel davon entfielen auf Publikumsfonds.
Viele Anleger haben sich in den vergangenen von den vermeintlich positiven Auswirkungen von ESG-Investitionen blenden lassen, ohne zu hinterfragen, ob die Unternehmen tatsächlich nachhaltig und ethisch handeln. Ein Beispiel hierfür sind Unternehmen, die zwar in der öffentlichen Wahrnehmung als umweltfreundlich gelten, aber in ihren Lieferketten Menschenrechte verletzen oder andere soziale Probleme ignorieren.
Finanzrendite vs. Nachhaltigkeit
Ebenso kritisch ist als Nachhaltigkeits-Anleger: Viele ESG-Investments sind (natürlich) darauf ausgelegt, eine hohe finanzielle Rendite zu erzielen, wodurch der ursprüngliche Zweck – die Förderung nachhaltiger und ethischer Praktiken – in den Hintergrund rückt. Fondsmanager könnten gezielt in Unternehmen investieren, die zwar eine hohe Rendite versprechen, aber nur minimal den ESG-Kriterien entsprechen. Dies untergräbt die Glaubwürdigkeit des gesamten Ansatzes. Besonders problematisch ist dies, wenn Fonds immer noch in fossile Brennstoffe oder umstrittene Industrien investieren.
Nachhaltig heißt nicht automatisch sicher Investieren
Ein weiterer Punkt des Selbstbetrugs besteht darin, dass viele ESG-Produkte als sicherer oder stabiler angesehen werden als traditionelle Investitionen. Tatsächlich sind ESG-Investitionen jedoch ebenso risikobehaftet, und es gibt keine Garantie, dass sie langfristig besser performen. Die Annahme, dass nachhaltige Unternehmen weniger anfällig für wirtschaftliche Schwankungen oder Marktveränderungen sind, hat sich in vielen Fällen als trügerisch erwiesen.
Manche ESG-Fonds haben beispielsweise oft höhere Gebühren als herkömmliche Fonds, da die Analyse und das Management der ESG-Kriterien als aufwendiger gelten. Dies führt zu einer zusätzlichen Kostenbelastung für die Anleger, ohne dass immer klar ist, ob die Investitionen tatsächlich einen positiven Einfluss haben. In vielen Fällen bleibt der tatsächliche Nutzen für Umwelt oder Gesellschaft gering, was die Frage aufwirft, ob diese höheren Kosten gerechtfertigt sind.
Eine weitere Schwierigkeit: Die Langzeitbewertung. Nachhaltigkeit ist oft ein langfristiges Ziel, während die Bewertung der finanziellen Leistung eines Unternehmens kurzfristig erfolgt. Diese Diskrepanz führt dazu, dass viele ESG-Fonds Unternehmen in ihren Portfolios haben, die kurzfristig hohe Renditen versprechen, aber langfristig nicht nachhaltig arbeiten. Für Anleger, die an echten Veränderungen interessiert sind, kann dies enttäuschend sein.
Das marktEINBLICKE-Fazit
Die Integration von ESG-Kriterien in Investitionsentscheidungen ist ein wichtiger Schritt, um den Problemen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Dennoch dürfen Investoren nicht den Fehler machen, diese Kriterien blind zu akzeptieren. Die Finanzbranche muss sich weiterhin für mehr Transparenz und Standardisierung bei der Bewertung von ESG-Faktoren einsetzen, um den Risiken von Greenwashing und Fehlbewertungen entgegenzuwirken. Anleger müssen wachsam bleiben und sicherstellen, dass sie nicht dem Selbstbetrug erliegen, sondern fundierte, umfassend recherchierte Entscheidungen treffen. Nur so kann die Finanzbranche nachhaltig und erfolgreich zur Lösung globaler Probleme beitragen. Anleger sollten daher genau hinsehen und nicht nur auf das ESG-Label vertrauen.