Seit Mitte Oktober läuft an der Wall Street die Berichtssaison für das dritte Quartal und wie immer gilt: Jetzt wird’s ernst. Bis Ende Oktober werden gut zwei Drittel der S&P‑500‑Unternehmen ihre Bücher öffnen und mit ihnen die wahre Verfassung der US-Wirtschaft widerspiegeln.
Und wissen Sie was? Trotz all der Schlagzeilen über Inflation, Zölle, Trump, Konjunktur und Krisen herrscht an der Wall Street ein erstaunlicher Optimismus.
Ein seltenes Phänomen: Gewinnschätzungen steigen
Normalerweise laufen Quartale so ab: Die Analysten starten mit hohen Erwartungen und senken sie dann Stück für Stück, damit die Unternehmen am Ende leichter positiv überraschen können. Diesmal nicht. Zwischen Ende Juni und Ende September wurden die Gewinnerwartungen für den S&P 500 sogar leicht angehoben. Ein Plus von 0,1 Prozent – das klingt mickrig, ist aber das erste Mal seit Ende 2021, dass die Schätzungen überhaupt steigen.
Vor allem Energie und Technologie stechen hervor: plus 4,2 bzw. 3,6 Prozent. Nur der Gesundheitssektor bleibt ein Sorgenkind, ein Minus von 7,3 Prozent. Und auch für das kommende Jahr sieht es ordentlich aus: Für 2025 und 2026 wurden die Gewinnprognosen angehoben. Das klingt nach Zuversicht in Zeiten, in denen Zuversicht eigentlich Mangelware sein sollte.
Die „Glorreichen Sieben“: unterschätzt und übermächtig
Bleiben wir ehrlich: Ohne die großen Tech-Giganten wäre die Wall Street längst nicht da, wo sie heute steht. NVIDIA, Apple, Microsoft, Meta, Alphabet, Amazon und Tesla – diese „Glorreichen Sieben“ haben den Markt getragen, teilweise im Alleingang.
Und was glaubt der Konsens? Nur 14 Prozent Gewinnwachstum im dritten Quartal. Ich sage: Das ist zu tief gegriffen. Im zweiten Quartal waren es 28 Prozent, im Schnitt der letzten vier Quartale über 30. Seit Jahren unterschätzen Analysten die Ertragskraft dieser Mega-Caps konsequent.
Die Ironie dabei: Dieselben Leute, die sich über die Marktkonzentration beschweren, profitieren an der Börse genau davon. Wer heute auf US-Aktien setzt, setzt auf Tech – ob er will oder nicht.
KI bleibt das Schlüsselfragment
Die Berichtssaison wird auch zeigen, wie tragfähig der KI-Boom wirklich ist. NVIDIA (WKN: 918422 / ISIN: US67066G1040) berichtet zwar erst im November, aber schon jetzt richten sich alle Augen auf die Aussagen der großen Cloud-Player – Microsoft, Amazon und Alphabet. Sie sind die „Hyperscaler“, die Milliarden in Infrastruktur investieren, um das Wettrennen der künstlichen Intelligenz anzuführen.
Analysten erwarten, dass das Wachstum der Investitionen von 75 Prozent im dritten Quartal auf 42 Prozent im vierten und 20 Prozent im Jahr 2026 zurückgeht. Klingt nach Abkühlung, oder? Nur: Diese Prognosen lagen schon in den letzten zwei Jahren jedes Mal daneben. Statt 20 Prozent wurden es jeweils über 50. Wenn die Geschichte sich wiederholt, ist der KI-Trade noch lange nicht vorbei.
Goldlöckchen tanzt weiter
Makroökonomisch leben wir im sogenannten Goldlöckchen-Szenario: nicht zu heiß, nicht zu kalt. Die Wirtschaft kühlt zwar leicht ab, bleibt aber stabil. Der Arbeitsmarkt ist weich, aber nicht schwach. Die Inflation nervt, aber sie eskaliert nicht.
Das Beste: Die Fed kann gelassen bleiben. Egal, ob die Konjunktur anzieht oder nachlässt – die Richtung der Geldpolitik zeigt nach unten. Selbst wenn die Wirtschaft plötzlich wieder Fahrt aufnimmt, dürften die Tauben in der Notenbank überwiegen. Und wenn nicht? Dann gibt’s umso mehr Spielraum für Zinssenkungen. Kurz gesagt: Die Geldpolitik bleibt Rückenwind für Risikoanlagen.
Das ist das Paradoxon der Märkte: Je länger alles „gerade so“ gut läuft, desto stärker werden die Bewertungen getrieben. Und genau deshalb ist die Wall Street derzeit auf einem Drahtseil unterwegs: zwischen Euphorie und Realitätscheck.
Zwei Welten, eine Wirtschaft
Doch unter der Oberfläche zeigt sich die alte Wahrheit: Die US-Wirtschaft ist K-förmig. Während Ferrari, Hermès oder LVMH glänzen, kämpft der Discountsektor mit schwächelnden Konsumenten. Die obere Einkommenshälfte investiert, profitiert, konsumiert und schaut auf steigende Depots. Die untere Hälfte sieht steigende Schulden, wachsende Kreditausfälle und bröckelnde Hoffnung.
CarMax meldet Rekordausfälle bei Subprime-Autokrediten, Tricolor ist pleite. Das mag keine Schlagzeilen machen – aber es erzählt viel über den Zustand der Basis. Die Wall Street feiert, während die Main Street hustet.
Fazit: Der Tanz geht weiter
Die Märkte sind wohl überhitzt, keine Frage. Bewertungen, Kursdynamik, Marktkonzentration – alles schreit nach einer Pause. Frühindikatoren für Inflation drehen leicht nach oben. Und dennoch: Noch keine einzige große Notenbank hat in den letzten zwei Monaten die Zinsen erhöht.
Historisch betrachtet platzt keine Blase im Schweigen der Zentralbanken. Erst wenn sie aktiv bremsen, kracht’s.
Solange sie stillhalten, läuft die Party weiter – begleitet vom leisen Knirschen des Drahtseils unter unseren Füßen. Also: Die Berichtssaison wird spannend, die Risiken bleiben, aber die Wall Street tanzt. Und wer tanzt, sollte wenigstens wissen, wo die Musik herkommt.

Ein Beitrag von Markus Koch
Er ist seit Jahrzehnten das deutsche Gesicht an der Wall Street. Egal ob als Börsenreporter für n-tv oder das Handelsblatt, als Vortragsredner und Moderator, in den sozialen Medien oder bei ganz neuen Veranstaltungsformaten, Markus Koch erklärt die Börse kurzweilig, humorvoll und kenntnisreich.
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