“Der DAX leidet unter der Sektor-Struktur des deutschen Kurszettels”

Bild: Christian W. Röhl

Der DAX wird am 1. Juli 32 Jahre alt. Dieser Geburtstag gibt allen Anlass zum Feiern, denn Deutschlands wichtigster Aktienindex schreibt eine beeindruckende Erfolgs-Story, oder doch nicht? Die marktEINBLICKE-Redaktion hat dazu Christian W. Röhl befragt. Er ist Kapitalmarkt-Profi mit 25 Jahren Erfahrung, verwaltet heute vor allem sein eigenes Vermögen und teilt seine Einsichten – in seinem Bestseller „Cool bleiben und Dividenden kassieren“, auf www.dividendenadel.de sowie in Vorträgen und Workshops für Banken, Unternehmer und Privatanleger.

Ist der DAX eine Erfolgsgeschichte?
Unter Marketing-Gesichtspunkten auf jeden Fall: Der DAX ist das Synonym für die Frankfurter Börse. Mit Blick auf die Performance waren indes nur die 1990er Jahre wirklich imposant. In den letzten zwei Jahrzehnten hingegen hat der MDAX um Längen besser abgeschnitten. Aber auch der gehört ja zur DAX-Familie, quasi als kleiner Bruder.

Wie wichtig ist ein international bekannter Leitindex für die Aktienkultur im Lande?
Ein international renommierter Leitindex ist natürlich ein Leuchtturm für den Kapitalmarkt. Aber für die Aktienkultur hierzulande ist Finanzbildung ungleich wichtiger und die Deutsche Börse AG tut ja eine Menge dafür. Wäre nur gut, wenn die Politik nicht immer querschießen würde – siehe Finanztransaktionssteuer, um nur mal ein Stichwort zu nennen.

Welche Kritikpunkte hat ein Investor am Index?
Der DAX leidet unter der Sektor-Struktur des deutschen Kurszettels. Es gibt hierzulande keine nun mal keine großen Nahrungsmittel-Konzerne an der Börse und die Versorger stecken mitten im Umbau. Damit fehlt es an starken defensiven Aktien, während Zykliker wie die schlingernde Auto-Industrie hoch gewichtet sind. Auch die Tech-Branche ist mit drei Aktien (SAP, Infineon, Wirecard) schwach besetzt. Und bei nur 30 Titeln sorgen auch Spezialsituationen à la Deutsche Bank oder Bayer dafür, dass der DAX bisweilen nach Problembär aussieht.
Daneben wird oft kritisiert, dass der DAX standardmäßig ein Performance-Index ist, also die Dividenden reinvestiert – was zwar den Gesamtertrag deutscher Blue Chip-Aktien widerspiegelt, aber eben den Blick auf die Kursentwicklung etwas verzerrt und international unüblich ist. Wer etwa deutsche und US-Aktien über längere Zeiträume vergleichen will, muss also in den Portalen erstmal nach dem DAX Kursindex oder dem S&P 500 Total Return suchen.

Welche Auswirkungen hat die Wirecard-Pleite und insbesondere der Indexverbleib bis September auf die Reputation des DAX?
Wirecard ist die erste DAX-Pleite und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, muss man den Zombie auch noch drei Monate lang durchschleppen. Bis September wird es noch eine ganze Reihe unappetitlicher Enthüllungen geben – und der DAX wird immer wieder hineingezogen. „Der bankrotte DAX-Konzern Wirecard“ macht medial nun mal mehr her als „die insolvente Wirecard AG aus Aschheim“. Natürlich färbt das negativ auf den Index und den Finanzplatz Deutschland ab, denn eine mutmaßlich betrügerische Milliarden-Pleite ist nochmal eine ganz andere Dimension als der Diesel-Skandal.

Wie müssten Regeln aussehen, um adäquat auf Sonderfälle wie Wirecard zu reagieren?
Es sollte dringend eine „Fast Exit“-Regel geben. Unternehmen, die die Vorlage ihres Jahresabschlusses mehr als einmal kurz vor knapp absagen, haben im Index nichts zu suchen und sollten schleunigst aus dem DAX fliegen. Dasselbe gilt für Unternehmen, die wiederholt gegen Offenlegungs- und Publizitätspflichten verstoßen. Und weil man die gravierendsten Einzelfälle kaum antizipieren und in ein Regelwerk packen kann, wäre es insgesamt sinnvoll, dem „Arbeitskreis Aktienindices“ wieder das letzte Wort zu geben. Dieses mit hochkarätigen Experten besetzte Gremium war ja früher die entscheidende Instanz bei der Index-Zusammensetzung und die „Weisen vom Parkett“ haben dabei immer auch „weiche“ Faktoren wie Kontinuität, Repräsentativität, Branchenstreuung und eben Reputation beachtet. Dieses Augenmaß fehlt in dem rein quantitativen Prozess, aus dem die Index-Komposition seit 2016 resultiert.

Wie könnte der ideale deutsche Leitindex aussehen?
Die Entwicklung des MDAX zeigt ja, was für erfolgreiche Aktiengesellschaften wir im Land haben. Die größten 20 davon würden einem repräsentativen Leitindex gut zu Gesicht stehen. Also Aufstockung auf 50 Titel, am besten alle gleichgewichtet. Ein solcher Index hätte von Anfang 2010 bis Ende 2019 knapp 150% Plus gebracht, verglichen mit 120% im DAX. Wobei die Gleichgewichtung natürlich die Handelbarkeit über ETFs oder Derivate erschwert. Aber eine Gewichtungsobergrenze von fünf statt zehn Prozent je Aktie würde zumindest die Klumpenrisiken reduzieren. Auch über ein Limit für einzelne Sektoren könnte man nachdenken.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bildquelle: Christian W. Röhl