Erinnern Sie sich noch an die Anfänge des Europäischen Gemeinschaftswerks? Die Zustimmung zur Wiedervereinigung machte unser linksrheinischer Nachbar damals davon abhängig, dass in Europa eine gemeinsame Währung geschaffen wird. Nicht zuletzt erhoffte sich Frankreich davon die gleichen günstigen Renditen für Staatsschulden wie Deutschland, um seinen damals schon schuldengeplagten Staatshaushalt zu sanieren und seine Wirtschaft zu stimulieren. Hinzu kam, dass Frankreich von Beginn an eine große Währungsunion haben wollte. Die Absicht dabei war weniger, der Eurozone mehr geopolitisches Gewicht zu verleihen. Primär ging es Frankreich darum, mit möglichst vielen Gesinnungsgenossen des Club Méditerranée ein gehöriges Gegengewicht gegenüber Deutschland, Finnland, den Niederlanden und Österreich zu bilden. Von deren ungeliebter Stabilitätskultur wollte man sich nicht erdrücken lassen.
Wenn man die Chancen nicht nutzt, nehmen die Risiken zu
Unter der Bedingung und im Vertrauen darauf, dass sich die Euro-Politiker strikt für die Verfolgung der eisernen Stabilitätsregeln und bei Zuwiderhandlung ebenso streng für scharfe Sanktionen einsetzen, waren die Nordeuropäer und vor allem Deutschland bereit, ihre harten Währungen bzw. seine geliebte Deutsche Mark aufzugeben. Und die Kinderzeit der Eurozone verlief ja auch zunächst gar nicht schlecht. Insbesondere die südlichen Euro-Länder erfreuten sich aufgrund der gesunkenen Zinsen einer massiven Sonderkonjunktur, insbesondere durch die Immobilienhaussen. Leider haben die Euro-Staaten diese Happy Days nicht für wettbewerbsverbessernde Strukturreformen, sondern für noch mehr Staatsverschuldung genutzt. Dies sollte sich später noch bitter rächen.
Die Stabilitäts-Ursünde hat Deutschland selbst begangen
2001, 2002, 2003, 2004 und 2005 verstieß aber ausgerechnet Stabilitätsmusterschüler Deutschland gleich fünfmal hintereinander gegen das Neuverschuldungskriterium. Und wurde Deutschland dafür – wie in den Euro-verträgen vorgesehen – bestraft? Nein, denn mit Hilfe von Frankreich, Italien und Griechenland (!) konnte die deutsche Bundesregierung Sanktionen vermeiden. Seitdem hatten diese bei uns stabilitätspolitisch einen gut.
Eigentlich machte damals ein stabilitätspolitisch disziplinloses Deutschland den Regelverstoß hoffähig. Und aus dieser Mücke wurde zügig ein Elefant. Im Jahre 2004 wies das Europäische Amt für Statistik nach, dass die griechischen Angaben zu ihren Haushaltsdefiziten 1997 bis 2000 wie bei Grimms Märchen frei erfunden waren. Tatsächlich lagen sie erheblich über dem Euro-Konvergenzkriterium von „3 Prozent der Wirtschaftsleistung“, was Griechenlands Beitritt in die Eurozone vereitelt hätte. Dennoch wurde das Verfahren gegen den griechischen Schuldenlügner eingestellt. Ebenso „verständnisvoll“ reagierten die Euro-Politiker, als bekannt wurde, dass Athens Haushaltsdefizit für 2009 nicht bei 3,7, sondern mehr als viermal so hoch bei 12,7 Prozent lag. Und schon wieder keine Sanktion.
2010 erhielt Griechenland aufgrund eines ansonsten drohenden Bankrotts ein Rettungspaket über 110 Mrd. Euro, obwohl zwischenstaatliche Kredithilfen in den EU-Verträgen ausdrücklich verboten sind. Und 2012 kam es zu einem mehr oder weniger erzwungenen Schuldenschnitt der privaten Gläubiger Griechenlands, bei dem Banken und Versicherer – und damit auch ihre Kunden – auf etwa 70 Prozent ihrer Forderungen verzichten mussten. Diese insofern künstlich verbesserte Bonität der griechischen Staatsfinanzen war aber Bedingung für die Vergabe eines zweiten Rettungspaktes über 130 Mrd.
In diesem Jahr feiert die stabilitätspolitische Disziplinlosigkeit ihren Höhepunkt. Der griechische Regierungschef spielte mit den Euro-Politikern und EZB-Direktoren Katz und Maus. Obwohl dieser die Reformen seiner Vorgänger rückgängig machte und die Gläubiger gemeinsam mit seinem spielfreudigen Finanzminister wie Gegner im Boxring behandelte, hatten die Gläubigervertreter – allen voran Herr Juncker – nichts Besseres zu tun, als das Matthäus-Evangelium anzuwenden: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin.
Je größer die griechischen Schulden, umso größer das Athener Erpressungspotenzial
Offensichtlich geht die Politik davon aus, dass der Euro scheitert, wenn Griechenland geht. So konnten griechische Ideologen die Stabilitätsspielregeln ändern wie sie wollten und erhielten dennoch von Gläubigerseite nicht nur nicht die rote Karte. Im Gegenteil, zuletzt wurde Athen ein dramatisch großzügiges Angebot der Euro-Finanzgruppe unterbreitet, bei dem die Reformbedingungen erneut reduziert und die geldlichen Gegenleistungen erneut aufgestockt und auf zwei Jahre verlängert wurden. Damit hat Europa seine stabilitätspolitische Glaubwürdigkeit bereits schwer in Verruf gebracht. Man ist förmlich zu Kreuze gekrochen. Dennoch lehnte Herr Tsipras dieses Angebot als „Erpressung“ ab und nimmt damit sein Volk in Geiselhaft. Er will geldliche Leistung ohne reformistische Gegenleistung, am liebsten in Form eines dritten Hilfspakets, also neuen Schulden und einer schmerzlosen Restrukturierung, d.h. Schnitt der alten Schulden. Er weiß sehr wohl: Je größer die griechischen Schulden und je größer die Schulden der griechischen Banken bei der EZB, umso größer das systemische Erpressungspotenzial im Hinblick auf mögliche Kreditausfälle. Schon jetzt weiß ich nicht, wie griechische Banken ihre EZB-Hilfskredite von fast 90 Mrd. Euro jemals zurückzahlen wollen.
Jetzt müssen die griechischen Wähler für klare Verhältnisse sorgen
Ich bin froh, dass die Euro-Gruppe jetzt auf dieser „Road to Hell-as“ nicht weitergeht und die EZB ihren Notkreditrahmen für Athens Banken nicht weiter erhöht. Ich freue mich noch mehr darüber, dass am kommenden Sonntag die demokratischste aller Instanzen – die Bevölkerung – in einer Volksabstimmung über das Hilfsangebot der Euro-Gruppe abstimmt. Wie früher im Römischen Imperium wird die griechische Stimme des Volkes – Vox Populi – den Ausschlag geben.
Allerdings ist die Referendumsfrage unverständlich gestellt. Die deutsche Übersetzung lautet: „Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25.06.2015 eingereicht wurde und aus zwei Teilen besteht, die in einem einzigen Vorschlag zusammengefasst sind?“
Wie auch immer, sollte die Mehrheit mit „Ja“ stimmen, sind Reformen von allerhöchster Stelle genehmigt. Dann gehen die Verhandlungen mit Griechenland in die nächste Runde. Ministerpräsident Tsipras, der sein politisches Schicksal mit dem Referendum durch seine undemokratische Wahlempfehlung mit „Nein“ zu stimmen verbunden hat, wäre dann gescheitert und sollte zurücktreten. Seine ideologischen Langspielplatten würden verstummen und meine Verlustschmerzen sich sehr in Grenzen halten.
Sollten die Bevölkerung jedoch mehrheitlich für „Nein“ votieren, hat sie Reformen abgelehnt und muss meiner Meinung dann die Pleite und den Grexit in Kauf nehmen. Wenn selbst die griechischen Wähler die Stabilitätsregeln der Eurozone ablehnen, können sie in der Stabilitätsunion der Eurozone nicht weiter mitspielen. Einen Rauswurf wird es jedoch nicht geben, allein schon, um später keine Legendenbildung aufkommen zu lassen, man habe die Griechen im Stich gelassen. In den EU-Verträgen ist ohnehin kein Austritt vorgesehen.
Jedoch wird die normative Kraft des Faktischen dann dafür sorgen, dass Athen den Weg des Grexit selbst beschreiten wird. Wenn es von den Gläubigern keine Hilfsgelder mehr gibt, ist der Staatsbankrott mit all seinen Konsequenzen zügig da. Wenn der Zahlungsverkehr und die Banken kollabieren, kollabiert auch die Wirtschaft. Vater Staat kann Pensionen und Gehälter der Staatsbeamten nicht mehr begleichen. Sie erhalten dann statt Euros Schuldscheine. Das wäre bereits der erste Schritt zur neuen Währung. Denn da Schuldscheine gegenüber dem Euro dramatisch abwerten und an Kaufkraft verlieren würde, müsste die Regierung gezwungenermaßen – um soziale Verwerfungen zu verhindern – die Drachme als Zahlungsmittel wieder einführen.
Bei einem Grexit haben wir Kaufkurse
Wenn ich ehrlich bin, wäre mir ein „Nein“ lieber. Denn dann würden endlich klare Fakten geschaffen, an denen man sich orientieren kann. Die Euro-Stabilitätsunion könnte stabilisiert werden und Griechenland bekäme mit einer exportstärkenden Abwertung und einem dann nicht mehr zu verhindernden Schuldenschnitt – übrigens werden auch im Status Quo die griechischen Schulden nie mehr zurückgezahlt – eine neue Wirtschaftschance, die die Menschen auch verdient haben. Und natürlich würde die EU diesen Transformationsprozess durch Sicherstellung der Lebensmittel-, Energie- und Gesundheitsversorgung begleiten.
Die Märkte würden bei einem griechischen „Nein“ zwar zunächst nachgeben. Zu einem Crash kommt es nicht, denn es fehlen die Zutaten: Die Griechen-Pleite und der Grexit kämen im Vergleich zur damaligen Lehman-Pleite und dem damit verbundenen Beginn der Immobilienkrise nicht über Nacht, sondern mit Ansage. Da zudem die Banken nicht wie damals in Immobilien heute in Griechenland übermäßig investiert sind, ist ebenso eine Bankenkrise 2.0 nicht zu befürchten. Und außerdem sind die Rettungsinstitutionen präsent. Rettungsschirme und EZB sind gewappnet, das Überschwappen des griechischen Krisenvirus auf andere Euro-Länder zu verhindern. Da brennt nichts an. Dieses entspannte Bild vermittelt nicht zuletzt ein stabil gebliebener Euro.
Der Euro scheitert nicht, wenn die Griechen austreten. Denn die Euro-Kette wird nicht schwächer, wenn das schwächste Glied entfernt wird. Nur wenn weiter undisziplinierte Verstöße gegen Stabilitätsregeln geduldet werden, hat die Eurozone längerfristig keine Chance.
Der Grexit täte der Eurozone, ihren Finanzmärkten und auch den Griechen selbst gut.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128
Bildquelle: Baader Bank / markteinblicke.de