Die Gretchenfrage an die Geldpolitik: Wie hältst Du es mit der Inflation?

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Es ist üblich geworden, Inflation als harmlos einzustufen. Bei den Verbrauchern haben die günstigen Tank- und Heizpreise psychologisch ganze Arbeit geleistet. Offiziell beträgt die deutsche Preissteigerung aktuell 0,7 Prozent. Auch wenn sie schon tiefer war, ist sie vergleichsweise unspektakulär. Normale Preissteigerungen wie früher um drei, vier oder mehr Prozent haben wir offenkundig nicht mehr auf dem Radarschirm. Wo soll sie denn auch herkommen?

Und dennoch sollte man gegen den Strich bürsten. Sind Sie wirklich der Meinung, dass die offizielle Inflation Ihrer tatsächlichen Preiswirklichkeit entspricht? Ich behaupte, dass die inoffizielle, oder besser gesagt die tatsächliche Preissteigerung deutlich höher als die veröffentlichte ist. Das liegt nicht am Statistischen Bundesamt. In Wiesbaden arbeitet man qualitativ hochwertig. Allerdings habe ich mit der Eignung des Warenkorbs, auf dem die Inflationsmessung derzeit basiert, meine liebe Not. Man mag einwenden, dass es einen allgemeingültigen Warenkorb nicht gibt. Stimmt, nicht jeder schlemmt Kaviar, süffelt Champagner oder düst mit einem Ferrari über die Autobahn.

Die offizielle Inflation ist Pinocchio-haft

Aber ich halte es für kein Hexenwerk, einen Warenkorb zusammenzusetzen, der einem typischen menschlichen Lebensalltag zumindest nahe kommt. Denn wir alle haben Grundbedürfnisse, müssen essen und trinken, Miete und Strom zahlen und Versicherungsprämien entrichten. Um eine repräsentative Inflation zu berechnen, muss sich der zugrundeliegende Inflationswarenkorb also grundsätzlich an diesen leider recht teuer gewordenen Gütern orientieren. Und da diese naturgemäß auch regelmäßiger zu kaufen sind als immer preisgünstiger werdende braune Ware (z.B. Fernseher), weiße Ware (Kühlschränke & Co.) oder schwarze Ware (Notebooks, etc.), ist genau diese Kaufhäufigkeit im Inflationswarenkorb deutlich stärker zu berücksichtigen als bislang üblich. Darauf gegründet bin ich überzeugt, dass eine wirklichkeitsnahe Inflation oberhalb von drei Prozent liegt.

Verständlicherweise haben keine Firma und kein Politiker irgendein Interesse an der offiziellen Ausweisung dieser tatsächlichen Preissteigerung. Dann würden Gewerkschaften und öffentlich Bedienstete höhere Lohnsteigerungen zum Inflationsausgleich einfordern, was die Ertragssituation von Unternehmen bzw. die öffentlichen Kassen strapazierte.

Und auch die Finanzmärkte haben sich an die Behaglichkeit geschönter Inflationsdaten ähnlich gewöhnt wie Frostbeulen an einen wärmenden Kamin an kalten Herbst- und Wintertagen. Kein Wunder, denn so können sich die Notenbanken mit Blick auf das offiziell nicht erreichte Inflationsniveaus lässig zurücklehnen und behaupten, sie haben doch gar keine Veranlassung für geldpolitisch restriktiven Handlungsbedarf. Ein Schelm, wer Böses bei diesem Alibi denkt.

Aber was wäre, wenn die Happy Hour offiziell niedriger Inflationsraten endet?

Zum geldpolitischen Schwur käme es allerdings, wenn selbst die offizielle Preissteigerung nachhaltig steigt. Tatsächlich glaubt der Internationale Währungsfonds (IWF), dass sich die Preisentwicklung zukünftig mindestens normalisiert: 2015 lagen die Verbraucherpreise in Amerika, in der Eurozone, in Deutschland und in China bei 0,1; 0,0; 0,4 und 1,4 Prozent. 2017 sollen sie auf 2,3; 1,1; 1,5 und 2,3 Prozent steigen.

Aber wo könnten die steigenden Preise herkommen? Sie kommen leider nicht vom Wirtschaftswachstum, dem „angenehmsten“ Inflationsgrund. Wenn auch wenig für markant steigende Rohstoffpreise spricht, werden die preisdrückenden Basiseffekte dennoch auslaufen. Ebenso könnte ein schwacher Euro für Inflationsdruck sorgen. Leider kommen Preisanstiege immer mehr von öffentlicher Seite, da Vater Staat in der Eurozone grundsätzlich arm wie eine Kirchenmaus ist. Wenn er also in seiner Geldnot bei den Preisen seiner Dienstleistungen und Sozialversicherungen zuschlägt, spüren wir alle die blauen Inflations-Flecken.

Nicht zuletzt sollten protektionistische Maßnahmen nicht unterschätzt werden. Den Gipfel der Globalisierungseuphorie haben wir vermutlich hinter uns. Das Jahr 2017 könnte dem Freihandel ernsthaft zusetzen. Wenn die Weltkonjunktur weniger rund läuft, ist sich jeder selbst der Nächste. Aus Gemeinnutz wird dann schnell Eigennutz. Ohnehin sind viele mittlerweile der Meinung, dass die gepriesenen Segnungen der Globalisierung nicht bei ihnen ankommen. Sorgen dann entsprechende Wahlergebnisse für Importzölle in Land oder Region A, führt das schnell als Retourkutsche auch zu Zöllen im Land B. Noch ist der Handelskrieg nur lauwarm. Doch sollte er heiß werden, würde auch der Preisauftrieb steigen, da der globale Wettbewerbsdruck nachgibt.

Was ist heute geldpolitisch noch normal?

Dann könnten sich die Notenbanken zunächst zwar stolz auf die Brust klopfen, weil sie das Deflationsgespenst verjagt haben. Doch die Medaille hat eine Kehrseite: Nehmen die Notenbanken ihren Job ernst – die EZB hat zumindest auf dem Papier die Verpflichtung von der Deutschen Bundesbank übernommen, Inflation vorbeugend zu bekämpfen – müssten sie normalerweise zins- und liquiditätsseitige Schubumkehr betreiben.

Aber was ist heutzutage noch normal und vor allem wie viel geldpolitische Normalität kann man den Finanzmärkten noch zumuten? Ehrlich gesagt, nicht viel. Abseits von politisch motivierten Jubelkommentaren ist Europas Konjunktur keine blühende Landschaft. Auf eine stagnierende, wenn auch inflationierende Wirtschaft hätten daher notenbankseitige Restriktionen eine ähnliche spaßbremsende Wirkung wie trockengelegte Tümpel auf Froschpopulationen.

Heutzutage werden frische Staatsschulden dringend gebraucht, um den Euro-Volkswirtschaften künstlich auf die Wachstumssprünge zu helfen. Es geht ja auch darum, staatliche Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser und Sozialleistungen aufrechtzuerhalten. Niemand will soziale Unruhen riskieren. Und damit sich die Staaten dabei nicht das finanzielle Genick brechen, sorgt das eurozonale Wohlfahrtsamt – nennen wir es EZB – dafür, dass diese zu Schnäppchenpreisen finanziert werden. Wir haben den point of no return erreicht: Nur durch niedrigste Leitzinsen und massiv kreditzinsendrückende Anleiheaufkäufe ist die überbordende Staats(neu)verschuldung überhaupt noch zu stemmen.

Wehe, wenn das Zinsschock-Monster aus dem Finanz-Käfig entkommt

Bei tatsächlich offiziell höherer Inflation und einer reflexartigen Gegenreaktion der Notenbanken ist die schöne heile Schuldenwelt schnell beendet. Würde Mario Draghi als der bisherige Schutzpatron von Staatspapieren zukünftig Markt- statt Planwirtschaft zulassen, die dafür sorgt, dass die höheren Preissteigerungsraten zum Ausgleich auf die Anleiherenditen geschlagen werden, ist für die Mehrzahl der Finanzminister Verschuldung nicht mehr bezahlbar. Zur gepflegten Kenntnisnahme: Italien zahlt heute im Durchschnitt für seine Staatsschulden weniger als 0,4 Prozent Zinsen. Vor der Euro-Familienrettung durch seine geldpolitische Heiligkeit Mario waren es über sechs Prozent. Noch Fragen?

Überhaupt, wenn Anleiherenditen wegen Inflationsdruck steigen, wird doch kein Investor unbekümmert zusehen, wie seine massiven Buchgewinne aus langer früherer Niedrigzinszeit fallen wie Blätter im Herbst. Und da sich an Anleihemärkten Ansammlungen von Lemmingen befinden, werden selbstverständlich alle Anleiheinvestoren die Notbremse ziehen und präventiv Kasse machen, um ihre Kursgewinne zu realisieren, bevor sie den Bach runter gehen.

Zum Schluss reden wir von einem Zinsschock, einem weltweiten Anleihe-Crash mit allen realwirtschaftlichen Folgeschäden. Die Empfindlichkeit unserer heutigen Schuldenwelt entspricht der Haut eines weißhäutigen Nordschweden, der sich ohne Sonnenschutz viele Stunden am Strand einer Südseeinsel aufhält.

Bei Inflation werden die Notenbanken wegschauen

So leid mir diese Aussage aus Stabilitätssicht auch tut: Die Notenbanken können ihre eigentliche Aufgabe der Inflationsbekämpfung heutzutage nicht mehr wirklich wahrnehmen. Statt Karies und Parodontose zu behandeln, gibt es viel Schokolade und ein Verbot von Zahnbürsten.

Nicht jedem Politiker wird das wirklich Schmerzen bereiten. Wenn die Inflationsraten oberhalb von Anleiherenditen liegen, hilft doch die Preissteigerung mit, Staatsverschuldung in Höhe der Differenz zu verringern. Bezogen auf die aktuell tatsächliche deutsche Inflation von drei Prozent und einer durchschnittlichen Rendite von deutschen Staatspapieren von aktuell minus 0,1 Prozent (Basis Umlaufrendite) ist Deutschland in gut 20 Jahren über die Inflationierung ohne reale Verschuldung. Leider heißt dies aber auch, dass Zinsanleger real ohne Vermögen sind.

Im inflationären Extremfall wird die Geldpolitik zunächst Blendgranaten werfen. Sie wird von einem vorübergehenden Inflationsphänomen sprechen. Vor geldpolitischer Einschränkung müsse man erst die weitere Entwicklung abwarten. Und dieses Abwarten kann dann zum Warten auf Godot ausarten. Und wenn alle Stricke reißen, kann man immer noch die Warenkörbe der Inflationsindices aufhübschen. Vielleicht nimmt man dann ja Dinge wie Schwarzweißfernseher in den Warenkorb auf. Dann haben wir das Thema Inflation per Definition beendet.

Hinter vorgehaltener Hand ist den (Geld-)Politikern jedes Mittel zur Aufrechterhaltung der Illusion einer intakten Schulden- und Anleihewelt recht.

Öffentlich behaupten die Notenbanken zwar weiter mit heiligem Stabilitätsschwur, bei Inflation nicht tatenlos zuzuschauen, sondern einzugreifen. Wer es glaubt, wird selig!

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.

Bildquelle: Baader Bank / dieboersenblogger