Raus aus dem Elfenbeinturm!

Bildquelle: Pressefoto DSW

Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen führen zu einer ehrlicheren und wirklichkeitsorientierteren Nachhaltigkeits-Diskussion.

In den letzten Jahren wurde in Europa und auch in Deutschland eine intensive und breite Nachhaltigkeitsdiskussion geführt. Im Ergebnis wurden dabei die Unternehmen in die Kategorien „grün“, „grau“ und „braun“ oder eben in „gut“ und „böse“ eingeteilt, anhand derer die Investoren entscheiden können, in welche Bereiche ihr Kapital fließen soll und in welche nicht. Damit schienen die Probleme gelöst, die Entscheidungen glasklar. Das Ziel, Kapital in erster Linie in nachgewiesenermaßen nachhaltige Wirtschaftszweige zu lenken, war scheinbar erreicht.

Allerdings wurden Konflikte, die zwischen den einzelnen Nachhaltigkeitszielen unweigerlich auftreten können, zwar nicht ignoriert, aber auch nicht wirklich angegangen.

ESG-Konflikte unvermeidbar

Denn immer gibt es auch Konflikte zwischen Umweltzielen und sozialen Aspekten. Würde z.B. eine Produktion beendet, weil der CO2-Ausstoß und auch sonstige Umweltbelange besonders negativ wirken, kann dies auch zu einer Schließung des Werkes, zu Entlassungen und damit auch zu sozialen Verwerfungen führen. Hier einfach allein die Umwelt in die vorderste Reihe und sogar an erste Stelle zu positionieren, ist sicherlich schnell ausgesprochen. Die Umsetzung und auch die Schicksale, die damit verbunden sind, darf man in der Diskussion aber nicht verschweigen.

Dies ist in der Vergangenheit leider nur allzu oft der Fall gewesen. Auch hatte die Betonung der Umweltbelange in den letzten Jahren bereits zu einer Veränderung bei der Finanzierung der Unternehmen geführt. ESG- und damit Nachhaltigkeitsrisiken wurden eingepreist. In der Folge müssen einige Industriezweige bereits heute mit deutlich höheren Eigenkapital- und Fremdkapitalkosten kämpfen.

EU-Taxonomie überdenken

Wir haben also unseren Elfenbeinturm verlassen und das hätte schon längst der Fall sein müssen. Dass es dafür erst eines solch schrecklichen Anlasses bedurfte, ist höchst bedenklich. Und so kann man alle Beteiligten insbesondere in Brüssel nur dazu auffordern, im Rahmen der EU-Taxonomie den Fokus zu weiten und nicht heute Entscheidungen zu treffen, die uns zukünftig – sei es aus energie- oder sicherheitspolitischen Gründen – in Abhängigkeit und damit auch in die Defensive bringen.

Natürlich sind mit einer neuen Sichtweise auf das Thema Nachhaltigkeit die Probleme nicht gelöst und natürlich müssen wir mit hohem Engagement und mit sehr viel Kraft sowie noch mehr Geld die Energiewende schaffen. War es aber bisher der Klimawandel, der Grund genug geboten hätte, um zu handeln, so sind es nunmehr zudem sicherheitspolitische Gründe und das höchste aller Güter: unsere Unabhängigkeit. So werden wir einer globalisierten Welt sicher nicht vollends ohne Abhängigkeiten leben können. Gerade wir hierzulande in Deutschland sind als Exportnation auf den weltweiten Handel und auch freie Märkte angewiesen.

Wertewelt neu kalibrieren

Aber gerade das Beispiel Rüstung – oder besser: Verteidigung – zeigt, wie wichtig es ist, dass wir unsere Wertewelt kalibrieren. Durch den Ukraine-Krieg werden wir gezwungen, uns hier neu zu orientieren. Die Frage ist, ob wir die Zeit dafür haben, die dafür eigentlich notwendige gesellschaftliche Debatte intensiv zu führen.

Noch offensichtlicher zeigt sich das ganze Thema heute bereits an der Tankstelle oder bei den Heizkosten. In den letzten 20 Jahren haben wir unsere Abhängigkeit in Sachen Energie immer stärker Richtung Osten und damit Richtung Russland laufen lassen. Der vermeintlich gesellschaftliche Konsens hat dabei Entscheidungen möglich gemacht, die darin gipfelten, zunächst aus dem Atomstrom und danach aus der Kohleverstromung auszusteigen.

Ideologiebefreite Diskussion notwendig

Sicherlich ist es zu einfach, die vergangenen Entscheidungen in schwarz und weiß zu klassifizieren. All diese Entscheidungen, die wir heute aufgrund der aktuellen Situation schmerzlich bereuen, zeigen aber jeweils und erst recht zusammen, dass wir aktuell und in Zukunft deutlich ehrlicher und wirklichkeitsorientierter sowie vor allem ideologiebefreit die großen Themen unserer Gesellschaft diskutieren und entscheiden müssen. Dieser Aspekt ist uns hierzulande leider in den letzten 20 bis 30 Jahren abhandengekommen. Die Veränderungen werden nun umso einschneidender und wahrscheinlich auch schmerzlicher sein.

Ein Beitrag von Marc Tüngler

Er ist Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. (DSW) und ist ein profunder Kenner des deutschen Aktienmarktes. Als Redner und Aktionärsvertreter auf vielen Hauptversammlungen weiß er um die Befindlichkeiten von Vorständen und Aktionären.
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