Das Märchen vom rationalen Investor

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Lange Zeit herrschte in den Wirtschaftswissenschaften die Überzeugung, dass Anleger kühle Nutzenmaximierer sind und dass sich die Entwicklungen an den Finanzmärkten dementsprechend rational begründen lassen. Doch dieses Erklärungs-Modell beruht auf Prämissen, die den Realitäten nicht standhalten. Warum das so ist und was Anleger daraus lernen können …

In den Wirtschaftswissenschaften dominierte lange Zeit die Grundannahme des Homo Oeconomicus. Damit ist der streng logisch denkende und handelnde Mensch gemeint, der über alle wichtigen Informationen verfügt und mittels dieser Basis ständig nach Gewinn- und Nutzenmaximierung strebt, und das mit kleinstmöglichem Einsatz von Zeit, Arbeit und Kapital. Dieses Wirtschaftsmodell wurde von neoklassischen Ökonomen, allen voran Adam Smith, einem der Mitbegründer der klassischen Nationalökonomie, konzipiert. Die Volkswirte verfolgten das Ziel, die Werkzeuge der Mathematik zu nutzen, um wirtschaftliche Entwicklungen zu erklären beziehungsweise sogar vorherzusagen.

Die schöne Theorie vs. die nackte Realität

Dementsprechend ging die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler lange Zeit fest davon aus, dass sich auch das Geschehen an den Finanzmärkten rational erklären lässt und Anleger kühle Rechner sind, die stets bestrebt sind, ihren Nutzen zu maximieren.

Wer das Modell des Homo Oeconomicus und des rationalen Investors aber beiseitelegte und sich näher mit den tatsächlichen Börsen-Entwicklungen beschäftigte, dem offenbarte sich eine ganz andere Realität.

Denn an den Finanzmärkten gibt es seit jeher immer wiederkehrende Entwicklungen, die sich nicht rational begründen lassen. Dazu gehören beispielsweise Spekulationsblasen, die sich von großer Euphorie getrieben immer weiter aufblähen und dann früher oder später wieder platzen.

Wenn das geschieht, folgen immer wieder Phasen der Angst und der Panik, die Anleger dazu bewegen, selbst die Aktien von langfristig sehr erfolgreichen Unternehmen zu Spottpreisen zu verkaufen, womit dann oft auch hohe Kursverluste verbunden sind.

„Unsere tröstende Überzeugung, dass die Welt einen Sinn haben muss, beruht auf einem sicheren Fundament: die nahezu uneingeschränkte Fähigkeit, unsere Unwissenheit zu ignorieren.“ (Daniel Kahneman, Wirtschaftsnobelpreisträger)

Die Geschichte der Börsen ist dementsprechend auch von Irrtümern, Obsessionen, Übertreibungen und einem ausgeprägten Anleger-Herdenverhalten getrieben.

Mathematische Formeln und klassische volkswirtschaftliche Modelle können diese Entwicklungen nicht erklären geschweige denn vorhersagen, vielmehr handelt es sich hierbei um psychologische Phänomene, die sich eher mit den Instrumenten der Psychoanalytiker einordnen lassen.

Die Geschichte der Börsen ist auch von Irrtümern, Obsessionen, Übertreibungen getrieben. Bildquelle: markteinblicke.de

Sind die Aktienmärkte wirklich effizient?

Es stellt sich deshalb die Frage, warum das Modell des Homo Oeconomicus überhaupt so lange die Wirtschaftswissenschaften prägte. Der Grund hierfür ist die Annahme der Markteffizienz, die diesem Modell zugrunde liegt.

Die Markteffizienzhypothese, die zu den Grundpfeilern der modernen Kapitalmarkttheorie gehört, fußt auf einigen Grundannahmen, die kritisch hinterfragt werden sollten.

„Ich wäre ein Penner auf der Straße mit einem Zinnhut auf dem Kopf, wenn die Märkte effizient wären.“ (Warren Buffett)

Grundannahme 1: Das Ziel der Gewinn-Maximierung

Laut der ersten Grundannahme der Markteffizienzhypothese besteht das Ziel aller Marktteilnehmer stets darin, ihre Gewinne zu maximieren. Auf den ersten Blick sieht das einleuchtend aus, allerdings ist Gewinnmaximierung nicht das einzige Motiv und oft auch nicht das wichtigste Motiv, das Anleger leitet.

So geht es zum Beispiel vielen Anlegern bei ihren Aktien-Investments weniger um die Gewinnmaximierung, sondern vielmehr um den Vermögenserhalt. Denn gerade in Zeiten niedriger oder sogar negativer Zinsen bei gleichzeitig hoher Inflation führen Anlagen in Festgeld, Tagesgeld, Sparbüchern oder beispielsweise deutschen Bundesanleihen letztlich nur zu realen Vermögenseinbußen.

Viele Anleger nutzen Aktien- oder auch Gold-Investments daher weniger mit dem vordergründigen Ziel der Gewinnmaximierung als vielmehr mit dem Ziel der Vermögenssicherung.

Außerdem kann es zum Beispiel für den Aktienkauf auch sehr persönliche Gründe geben. So wird häufig in die Aktien eines Unternehmens investiert, weil man dessen Produkte kennt und mag, oder da Freunde, Bekannte oder der Anleger selbst in diesem Unternehmen beschäftigt ist. Ebenfalls gibt es natürlich auch unter den Anlegern die Glücksritter, denen es nicht um den langfristigen Vermögensaufbau geht, sondern um den Nervenkitzel der oft kurzfristig ausgerichteten Spekulation.

Grundannahme 2: Alle Marktteilnehmer sind vollständig informiert

Die zweite Grundannahme der Markteffizienzhypothese besagt, dass alle Marktteilnehmer vollständig informiert sind und auf Grundlage dieser vollständigen Informationen rational entscheiden. Doch das ist in der Realität nie der Fall, denn die Informationsaufnahme-Kapazität eines jeden Menschen ist stark begrenzt. Deshalb ist es nicht möglich, alle wichtigen Informationen zu berücksichtigen.

Außerdem verfügen nicht alle Anleger über dieselben Informationen beziehungsweise über ein vergleichbares Ausmaß an Informationen. Einige sind also besser informiert, andere schlechter, zumal sich die Informationen nicht nur in ihrer Quantität, sondern auch in ihrer Qualität voneinander unterscheiden können.

Um überhaupt zu entscheiden, welche Informationen für eine Anlageentscheidung wichtig sind, wäre es zudem zwingend notwendig, über alle Informationen, also sowohl über die relevanten als auch über die irrelevanten, zu verfügen. Und das ist ja gerade nicht der Fall.

Grundannahme 3: Alle Informationen werden rational bewertet

Das dritte Axiom der Markteffizienzhypothese lautet, dass alle Informationen vom Anleger rational bewertet werden. Auch das sieht in der Realität in der Regel ganz anders aus. Bekanntlich laufen etliche geistige Prozesse nebeneinander ab, die Informationen filtern, auswählen und rational oder auch irrational bewerten.

Hier kommt beispielsweise die sogenannte selektive Wahrnehmung ins Spiel. Anleger suchen gezielt nach Informationen, mit denen das eigene Anlagevorhaben oder ein bereits getätigtes Investment bestätigt werden. Andere Informationen, die den eigenen Überzeugungen entgegenlaufen, werden dagegen als weniger relevant eingestuft oder sogar ganz ignoriert.

Das Trugbild des rationalen Investors

Die drei Grundannahmen der Markteffizienzhypothese sind in der Realität also bestenfalls sehr eingeschränkt gültig, weshalb auch der Homo Oeconomicus beziehungsweise der rationale Investor Trugbilder sind. Ähnlicher Auffassung war zum Beispiel auch der Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler Vilfredo Pareto, der im Jahr 1916 zu dem Schluss kam, dass sehr viele, oder sogar die meisten wirtschaftlichen Verhaltensweisen im Grunde genommen gar nicht logisch sind.

Pareto stellte unter anderem fest, dass es eine ausgeprägte Neigung gibt, einmal getroffene Entscheidungen stur beizubehalten, auch wenn sich diese im Nachhinein als falsch erweisen. Dieses Muster ist sehr typisch bei den Menschen, aber alles andere als logisch. So werden gerade im Nachhinein, nach der entsprechenden Entscheidung, „scheinlogische“ Erklärungen genutzt, die das eigene Handeln rechtfertigen.

Aktionäre von Apple sind seit Jahren fein raus. Sie brauchen keine Pyschotricks sondern bleiben langfristig in der Aktie des iPhone-Herstellers investiert. Bildquelle: Pressefoto Apple

Es ist beispielsweise typisch, dass Anleger nach dem Kauf einer bestimmten Aktie medial verstärkt nach positiven Nachrichten oder Einschätzungen zu dieser Aktie oder dem Unternehmen Ausschau halten, um den Aktienkauf so zu rechtfertigen und sich selbst damit zu beruhigen, auch wenn es für den Aktienkurs seit dem Kauf nur noch nach unten geht.

Es werden also (schein)logische Gründe gesucht, die den Kauf rechtfertigen, obwohl dieser vielleicht aus rein subjektiven Gründen getätigt worden ist, wie zum Beispiel aus einer kurzfristigen Kauflaune heraus oder auf Anraten eines Freunds oder eines Arbeitskollegen.

Behavioral Finance nimmt Anleger-Psyche unter die Lupe

Da die Entwicklungen an den Finanzmärkten immer wieder belegen, dass es den Homo Oeconomicus und den rationalen Investor in der Realität so eigentlich gar nicht geben, hat eine vergleichsweise noch junge Forschungsrichtung in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker an Bedeutung gewonnen, die sogenannte Behavioral Finance.

Diese verhaltensökonomische Forschung berücksichtigt den Fakt, dass sich Anleger gerade nicht streng rational verhalten und untersucht die tatsächlichen Ursachen für die individuellen Entscheidungsprozesse.

Einer der wichtigsten Erkenntnisse der Behavioral Finance ist dabei, dass das irrationale Verhalten der Anleger nicht zufällig ist, sondern systematisch. Anlageentscheidungen werden also nicht nur vorübergehend irrational getroffen, sondern die emotionale und chaotisch wirkende Entscheidungsfindung hat Methode.

„Die Bahn der Himmelskörper kann ich auf Zentimeter und Sekunden berechnen, aber nicht, wie eine verrückte Menschenmenge die Börsenkurse in die Höhe oder Tiefe treiben kann.“ (Isaac Newton, Physiker)

Die inzwischen zahlreichen Studien der Verhaltensökonomik, die vor allem auf praktischen Experimenten basieren, zeigen, dass insbesondere die Psychologie an den Börsen eine entscheidende Rolle spielt.

Nach André Kostolany, dem weltberühmten Börsen-Lehrmeister, beträgt der Einfluss der Psychologie auf die Aktienkurse sogar 90 Prozent. Ähnlicher Auffassung ist der Wirtschaftsnobelpreisträger und Behavioral-Finance-Experte Daniel Kahneman, dem zufolge das Börsen-Geschehen je zur Hälfte ökonomischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten folgt.

„Sobald man davon ausgeht, dass die Menschen eben nicht komplett rational handeln, wird man auch nicht mehr annehmen, dass die Leute die besten Entscheidungen treffen.“ (Daniel Kahneman)

Die Psycho-Falle: Gewinn- und Verlust-Bewertung

Ein Beispiel aus der Verhaltensökonomik, das zeigt, wie die eigene Psyche den Anlegern immer wieder Streiche spielt, ist der sogenannte Dispositionseffekt. Demnach kann bei Investments im Gewinnfall und im Verlustfall immer wieder unterschiedliches, meist genau gegensätzliches und in der Regel eher irrationales Verhalten beobachtet werden. Geraten Gewinne in Gefahr, spielen Anleger häufig auf sicher. Drohen dagegen hohe Verluste, steigt die Risikobereitschaft.

So werden Gewinnpositionen in einem Aktiendepot oft früh verkauft, um die aufgelaufenen Buchgewinne, also die noch nicht realisierten Gewinne, möglichst schnell abzusichern. Hier dominiert die Angst davor, dass sich die Buchgewinne im Falle fallender Kurse wieder verkleinern oder gar ganz in Luft auflösen.

Bei Verlustpositionen wird häufig genau gegensätzlich verfahren. Hier wird oft lange geglaubt oder gehofft, dass sich die Verluste wieder verringern oder sogar der ehemalige Kaufkurs wieder erreicht wird.

Der Gewinn-Kick schwächt sich ab

In der Realität kommt es leider aber oft ganz anders. Verlierer-Aktien weiten ihre Buchverluste aus. Diese werden dann oft so groß, dass sie das Gesamt-Anlageergebnis des Depots in die Tiefe reißen. Der Grund für das unterschiedliche Verhalten bei Gewinnen und Verlusten liegt in der menschlichen Psyche. So werden sehr ähnliche Sachverhalte oft aus unerfindlichen Gründen unterschiedlich behandelt.

Es leben die Kurstafeln! Wehe dem, dessen Aktienkurse im roten Bereich sind, dann werden viele Anleger nervös und machen Fehler. Bildquelle: markteinblicke.de

Häufig ist es an der Börse so, dass beispielsweise der erste zehnprozentige Gewinn für das Gehirn als besonders bedeutsam erachtet wird. Legt der Buchgewinn danach weiter auf plus 20 Prozent zu, ist die Freude über den eigenen Anlageerfolg auch noch relativ groß.

Je weiter der Gewinn aber steigt, desto geringer fällt der zusätzliche „Kick“ aus. Wenn die Bedeutung der zusätzlichen Gewinne also nachlässt, führt das häufig dazu, dass diese frühzeitig realisiert werden, um sie nicht mehr zu gefährden. Dadurch wird die Chance auf noch höhere Profite vertan.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich beim Anleger zuletzt

Genau andersherum sieht es bei Verlusten aus. Der erste Verlust von zum Beispiel zehn Prozent schmerzt am meisten. Weiten sich die Verluste aus, setzt ein Gewöhnungseffekt ein und die zusätzlichen Verluste werden immer gelassener hingenommen.

Außerdem beruhigen sich viele Anleger dann mit dem Gedanken, dass die Verluste ja noch nicht real sind, da die entsprechenden Papiere noch nicht verkauft worden sind. Erst der tatsächliche Verkauf würde dann zur schockierenden Wirklichkeit werden. Dieses Szenario schieben Anleger dann oftmals getreu der Devise „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ immer weiter vor sich her, bis schließlich manchmal sogar der Totalverlust eintritt.

Investoren sollten Emotionen im Zaum halten

Anleger neigen leider häufig dazu, mit jedem Investment eine persönliche Beziehung einzugehen. Deshalb würde das Verkaufen im Verlust das eigene Scheitern bedeuten. Sich dieses Scheitern einzugestehen, fällt den meisten unheimlich schwer, obwohl es rational betrachtet sinnvoll wäre. Denn kleine Verluste gehören an der Börse zwischenzeitlich immer dazu.

Solange diese begrenzt werden, sind diese auch nicht weiter tragisch und lassen sich schnell mit anderen Gewinnpositionen ausgleichen. Anleger sollten deshalb stets versuchen, die eigenen Emotionen im Zaum zu halten und sich die Frage stellen, ob sie ihr Geld erneut in den Verlustbringer im Depot investieren würden. In der Regel dürfte die Antwort darauf nein lauten. In diesem Fall ist das ein klares Signal für einen Verkauf.

Ein Trick: So lässt sich die Psyche bändigen

Dass es sich beim rein rational handelnden Investor erwiesenermaßen um eine Mär handelt, bedeutet noch lange nicht, dass Anleger ihren Emotionen schutzlos ausgeliefert sind. Wichtig ist es, die eigenen Handelsentscheidungen immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen und den Faktor Psychologie mit einigen Hilfsmitteln unter Kontrolle zu bringen.

So ist es beispielsweise hilfreich, bereits im Vorfeld einen Handelsplan aufzustellen, nach welchen Kriterien eine Aktie ausgewählt wird, wann konkret ein Ein- und Ausstieg vorgenommen wird und wie hoch der entsprechende Kapitaleinsatz ausfallen soll.

Ratsam kann es zum Beispiel sein, Aktienpositionen mit Stop-Kursen zu versehen. Werden diese zum Beispiel beim Online-Broker im System platziert, erfolgt der Aktienverkauf automatisch, sobald die entsprechenden Stop-Loss-Marken unterschritten werden.

In diesem Fall bleibt dem Anleger die schwere Verkaufsentscheidung erspart. Das System übernimmt diese und begrenzt damit die möglichen Verluste frühzeitig.

Online-Broker sind nützlich, verbieten aber auch zu viel Aktion. Sind macht es, Aktienpositionen mit Stop-Kursen zu versehen und dann nichts mehr zu machen. Bild: Unsplash/ Austin Distel

mE-Fazit

Die Annahme des rationalen Investors ist eine Mär, die auf nur sehr eingeschränkt gültigen Prämissen beruht. Die Börsen-Entwicklungen zeigen immer wieder, dass sich Anleger in großem Maße von ihren Emotionen leiten lassen.

Das führt häufig zu Fehlentscheidungen und damit verbundenen Verlusten. Doch es lässt sich gegensteuern. Um die eigene Psyche unter Kontrolle zu bringen, empfiehlt es sich, das eigene Handeln stets kritisch zu hinterfragen.

Getroffene Fehl-Investments sind nicht schlimm, wenn daraus die nötigen Konsequenzen gezogen werden. Das bedeutet, Minus-Positionen frühzeitig zu verkaufen, um die Verluste zu begrenzen.

Bereits vor dem Aktienkauf sollte ein Handelsplan aufgestellt und später auch eingehalten werden. Dieser legt die Kriterien für die Aktienauswahl und konkrete Ein- und Ausstiegs-Szenarien fest. So lässt sich die Gefahren-Komponente eigene Psyche entschärfen, was zu langfristig besseren Anlageergebnissen führt.

Bildquelle: Pressefoto Deutsche Börse AG, Pixabay