Ausblick 2022: Warum wird 2022 anders?

(Bildquelle: Heiko Thieme)

Wir geben in den kommenden Tagen in der Reihe „Ausblick 2022“ marktEINBLICKE zu den Faktoren, die das Anlegerjahr 2022 mitbeherrschen sollten. Dazu haben wir uns wieder kompetente Verstärkung ins Haus geholt und verschiedene Börsen-Experten gebeten, einen Ausblick zu wagen. Ihre Einschätzungen werden wir zum Jahreswechsel an dieser Stelle veröffentlichen. Heute ist Heiko Thieme an der Reihe.

Zuerst der Rückblick

Generell ging ich vor einem Jahr von einer Fortsetzung der Hausse aus, die nach dem Corona-bedingten Börsencrash Ende März 2020 begann. Das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum und die massive Liquidität vonseiten der Notenbanken lieferten dafür die Basis. In der ersten Novemberhälfte wurde mein Dow Jones Ziel von 36.000 und beim DAX von 16.000 sogar noch etwas überschritten.

Das Plus seit Jahresbeginn betrug beim Dow Jones 19 Prozent und beim DAX sogar 24 Prozent! Gemessen an den Tiefständen vom März 2020 verdoppelten sich beide Indices in nur 20 Monaten! Profis begannen Gewinne mitzunehmen, als die US-Notenbank bekanntgab, den Kauf von Staatsanleihen zur Unterstützung der Wirtschaft allmählich einzustellen. Der DAX und Dow Jones verloren bis zum zweiten Advent – dem Zeitpunkt dieser Kolumne – rund sieben Prozent in wenigen Wochen.

Der Technologiesektor kam bereits im Jahresverlauf unter Druck. Der Höhenflug der fünf FANG Werte – Facebook (Meta Platforms), Apple, Amazon, Netflix und Google (Alphabet) – in 2020 hat sich in diesem Jahr nicht fortgesetzt, sondern mit der Ausnahme von Google etliche Korrekturen von 10 Prozent oder mehr erfahren.

Das Stimmungsbild unter Anlegern hat sich in wenigen Tagen deutlich verschlechtert und belastet die traditionelle Jahresendrallye. Die in New York notierten chinesischen Werte wie Alibaba, Baidu, Tencent etc. kamen im Jahresverlauf unter einen enormen Verkaufsdruck und verloren seit den Rekordhöhen im Februar im Durchschnitt fast 60 Prozent! Der Immobiliengruppe Evergrande droht die Insolvenz.

Seit dem Rekordhoch im Februar brach der in Hong Kong notierte Börsenkurs um 90 Prozent ein. Der Immobiliensektor beeinflusst 30 Prozent der chinesischen Wirtschaft! Bitcoin – für mich eine wertlose Anlageklasse – verlor innerhalb von vier Wochen 40 Prozent! Prominente Investoren warnen seit einigen Monaten vor einer dotcom ähnlichen Blase wie vor 22 Jahren. Die Börse gleicht momentan einem psychologischen Vulkan!

Wie geht es jetzt weiter?

Coronavirus und hier besonders die Mutationen werden die Wirtschaft, Politik und Börse stark beeinflussen. Obwohl optimistische Wachstumsraten für die USA in den letzten Tagen etwas zurückgenommen wurden, besteht keine Rezessionsgefahr. Das gleiche gilt für Europa und Asien und die restliche Welt. Die US-Notenbank wir die Rückkäufe von Staatsanleihen spätestens im zweiten Quartal einstellen und mit Leitzinserhöhungen im zweiten Halbjahr beginnen, um den aktuellen Inflationsdruck einzudämmen. Preissteigerungen im Warensektor werden bereits Mitte nächsten Jahres wieder fallen.

Die Lohnkosten werden dagegen weiterhin steigen und damit den Konsum unterstützen. Die Sparquote ist Corona-bedingt momentan historisch hoch. Die Europäische Zentralbank (EZB) will eine Leitzinserhöhung erst 2023 in Betracht ziehen. Dieser Zeitplan ist jedoch datenabhängig. In jedem Fall, die Zeit für negative Zinsen nähert sich dem Ende. Dies wird die Bewertung am Aktienmarkt stark beeinflussen. Value oder Growth wird hier die Frage sein. Ich setze auf beides, sofern es begründbar ist.

Als der künftige Autohersteller Rivian (bisher wird kein Auto produziert) kurz nach der Neuemission im November auf eine Marktkapitalisierung stieg, die höher ist als VW – da konnte man sich nur wundern. Dann kaufe ich doch VW statt Rivian! Holländische Tulpenzwiebeln wie 1637 gibt es bereits an den Börsen – hier ist Vorsicht geboten!

Heiko Thieme: Preissteigerungen im Warensektor werden bereits Mitte nächsten Jahres wieder fallen. Bildquelle: Pressefoto Deutsche Börse AG

Der 97-jährige Partner von Warren Buffet, selbst 91 Jahre alt, vergleicht die Exzesse an der heutigen Börse mit der dotcom Blase um die Jahrtausendwende und zählt die Bitcoin Gruppe mit dazu. Meine Empfehlung hierzu lautet: Wer bei diesen Kasinowerten mitmachen will, sollte den Einsatz auf ein Prozent vom zur Verfügung stehenden Kapital beschränken. Die Hälfte der Anlagesumme sollte in ETFs (Weltindex, USA, Deutschland, Japan und auch China) sein und die andere Hälfte in Einzelwerte oder bei renommierten Fondsgruppen.

Die Politik wird 2022 entscheidend mit prägen. In Deutschland steht die Ampel-Koalition vor wichtigen Herausforderungen nach 16 Jahren Angela Merkel. In den USA entscheidet die Zwischenwahl im November, ob Präsident Biden weiter regieren kann oder marginalisiert wird, wenn seine Partei die knappen Mehrheiten im Kongress verliert.

Präsident Xi Jinping in China und Putin in Russland, sowie die angestrebte Wiederwahl vom französischen Präsidenten Macron werden die politische Agenda prägen und damit auch den Börsenalltag beeinflussen. Das Potential für Wall Street und den DAX liegt im Neuen Jahr im hohen einstelligen Bereich.

Der Dow Jones kann die 38.000 Marke sehen, beim DAX sind 18.000 meine Obergrenze. Japan bleibt auf meiner Liste mit einem Nikkei Kurs von bis zu 32.000. Momentan rate ich jedoch zu einer Liquidität von 25 bis 40 Prozent, um die mögliche Marktschwäche nutzen zu können.
Eine Korrektur von 10 bis 15 Prozent ist dabei jederzeit möglich. 2022 wird anders aber keinesfalls uninteressant!

HEIKO THIEME

Heiko Thieme ist über 45 Jahre im internationalen Anlagegeschäft tätig und schrieb 16 Jahre als freier Kolumnist für die FAZ. Seit dem Jahr 1979 gibt es seine Marktanalysen und Einschätzungen sowie die älteste deutsche Börsenhotline.
www: heiko-thieme.club

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