Es geht um viel mehr als nur um Griechenland: Stabilitäts- oder Mediterrane Schuldenunion?

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Im griechischen Verhandlungspoker kann ich nichts Verwerfliches darin erkennen, dass die deutsche Seite einen Grexit auf Zeit ins Spiel brachte. Klappern gehört zum Verhandlungs-Handwerk. Auch privat feilscht man bis zum Schluss, etwa beim Kauf eines Hauses oder Gebrauchtwagens. Hat die griechische Seite und ihre Unterstützter etwa nicht gepokert? Gleiches Recht für alle!

Was wäre denn die Alternative gewesen? Einfach um des lieben eurozonalen Friedens willen den Mund halten, klein beigeben und lediglich auf der Basis einer noch nicht vom griechischen Parlament verabschiedeten Reformliste milliardenschwere Hilfsgelder auszahlen? Den Fehler hat man schon einmal gemacht.

Deutschland ist nicht herzlos, nur weil es will, dass Regeln eingehalten werden

Außerdem fallen die Hilfsgelder nicht einfach so vom Olymp herunter. Sie kommen von Steuerzahlern. Mit diesem fremden Geld muss auch die deutsche Bundeskanzlerin besonders vorsichtig umgehen, hat sie doch geschworen, (Steuer-)Schäden vom deutschen Volk abzuwenden. Wenn Kreditgeber nur dann als überzeugte Europäer gelten, wenn sie trotz mannigfaltigen Stabilitätsregelverstößen und Reformablehnungen kritiklos zahlen, hat die Währungsunion einen schweren, irreparablen Webfehler. Die sich zurzeit künstlich aufregenden „Bundesempörungsbeauftragten“ werden mit eigenem Geld sicherlich auch sehr behutsam umgehen. Wer Zahlmeister ist, ist auch irgendwie Zuchtmeister: Erst Reformumsetzung, dann Geld.

Auch amerikanische Politiker und „Starökonomen“, die auf die deutsche Euro-Politik eindreschen, haben wunderbare Gelegenheiten verpasst, den Mund zu halten. Das Argument, Griechenland könne im Extremfall von der Nato-Fahne gehen, kann ich zwar verstehen. Aber ich bezweifle, dass sich der Otto Normal-Grieche wirklich dem herzerfrischenden Humanismus Putins aussetzen will. Ohnehin kann dies kein Mega-Argument sein, immer und immer wieder finanzpolitische Gnade vor Stabilitäts-Recht ergehen zu lassen. Oder haben die USA jemals Geld ohne harte Gegenleistungen verteilt? Als Sozialstaat ist mir Amerika nie aufgefallen. Es ist einfach, Geberländer zu kritisieren, wenn man sein eigenes Portemonnaie für Griechenland nicht aufmachen muss. Liebe Amerikaner, geht doch bitte mit gutem Beispiel voran. Wenn Ihr Angst vor griechischen Kollateralschäden habt, klingelt einfach in Washington bei der Fed durch. Vielleicht überweist sie ja eine ausreichend hohe Summe nach Athen. Ansonsten zahlt sie doch auch alles.

Tatsächlich haben die griechischen Abgeordneten den ersten Reformgesetzen zugestimmt und werden es ebenso bei den nächsten tun. Auch werden die Parlamente der Geberländer zu allen Brüsseler Reformplänen „Ja“ sagen. Zum Grexit kommt es also nicht, zumindest noch nicht.

Die Kuh mag damit vorerst vom Eis sein. Doch diese Reformmaßnahmen werden nicht ausreichen, Griechenland längerfristig vor dem wirtschaftlichen Einbruch zu bewahren. Denn niemand hat die Kuh so fest angebunden, dass sie daran gehindert wäre, erneut auf das Eis zu laufen.

Schöne politische Worte sind ökonomisch nicht wahr, wahre ökonomische Worte sind politisch nicht schön

Die Ergebnisse des Brüsseler Krisengipfels gehen am eigentlichen Ziel vorbei. Es geht doch nicht darum, möglichst viel zu sparen und irgendwie Geld in die klammen Athener Staatskassen zu bekommen. Das bringt eine Wirtschaft nicht auf Trab, dafür aber die Griechen auf die Barrikaden. Es geht um eine vernünftige wirtschaftliche Perspektive, die es entgegen immer noch gern verbreiteter sozialistischer Gesundbetung – die noch nie irgendwann irgendwo funktioniert hat – jedoch nur dann gibt, wenn Unternehmen freiwillig in Hellas investieren. Dann erst werden dort stabile Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen, wächst die Kaufkraft und können mit eigenem Steueraufkommen schließlich Staatsschulden bedient werden.

Unternehmen finden einen Standort dann sexy, wenn man vor allem die heißen Reformeisen im völlig maroden Verwaltungswesen – Irland hat es erfolgreich gemacht – und auf dem Arbeitsmarkt – Spanien hat es erfolgreich gemacht – anpackt. In den Brüsseler Reformbeschlüssen findet man dazu jedoch eher nur edle Absichtsbekundungen der Marke „Sport treiben ist gesund“. „Sollen“ und „Wollen“ ist eben etwas anderes als „Müssen“ oder „Tun“. Auch zukünftig wird Tsipras ebenso wenig ein Anhänger der Marktliberalisierung und des schlanken Staats sein wie der Frosch ein Fürsprecher der Trockenlegung von Sümpfen. Insgesamt werden damit Griechenlands Standortbedingungen nicht sexy. Auf Hellas hat kein Investor gewartet. Die Anlagewelt ist groß und bunt.

Die griechische Volkswirtschaft schreit geradezu nach einem Grexit auf Zeit. Er ist das geringere Übel gegenüber einem Verbleib in der Eurozone. Wenn wir doch ohnehin zahlen, wieso investieren wir dann das Geld nicht so, dass Griechenland von der Dauer-Intensivstation entlassen wird. Mit den Gehhilfen Abwertung und Anschubfinanzierung könnte Griechenland wieder lernen, sich wirtschaftlich ohne Fremdhilfe zu bewegen. Im Euro-Korsett können die Strukturdefizite – die meilenweit über die Probleme in Irland, Portugal oder Spanien hinausgehen – nicht vernünftig geheilt werden. Das wäre ein Wunder, dass es im Gegensatz zur griechischen Mythologie in der griechischen Realität nicht gibt. Die Alternativrettung Griechenlands im Euro mit permanenten Hilfsgeldern ist ökonomischer Unsinn.

Griechenland ist nur das Symptom, die Politik ist die Ursache des Euro-Problems

Gerade in der Griechenland-Frage zeigt sich, dass Europa tief gespalten ist, sich in einer schweren Identitätskrise befindet. Es gibt zwei unterschiedliche Fraktionen, deren jeweilige Fraktionsvorsitzende jahrzehntelang in puncto Europäischem Gemeinschaftswerk sehr gut zusammengearbeitet haben. Heutzutage hat das deutsch-französische Tandem an Zugkraft eingebüßt. Deutschland ist der Fahnenträger der Nordländer, die für Stabilitätsregeln und Sanktionen, Marktwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit eintreten. Frankreich dagegen ist mit seinem Gesinnungsbruder Italien der festen Überzeugung, dass ein hohes Maß an reformarmer Staatswirtschaft mit ständig neuen Schulden halb so schlimm ist. Diese Fraktion weiß hinter vorgehaltener Hand zwar, dass ohne harte Strukturreformen keine Volkswirtschaft auf einen grünen Zweig kommt. Doch da die Wähler diese „Pfui bah“ finden, lässt man es beim Status Quo. Soll doch lieber die EZB mit ihrer ultralockeren Geldpolitik den immerwährenden Rettungsengel für Euro-Schulden- und Konjunkturkrisen spielen.

Wenn schon das kleine Griechenland die Eurozone aus der Fassung bringt, ist dies unter normalen Umständen das klare Signal, dass die Eurozone ein richtiges Problem hat. Zur Abhilfe müsste sich der Gemeinschaftswährungsraum theoretisch viel tiefer integrieren und immer mehr nationale Souveränitätsrechte in der Finanz- und Wirtschaftspolitik abgeben. Frei nach Sepp Herberger müsste man sagen: „19 Euro-Freunde müsst ihr sein“. Eigentlich sollten sich die Euro-Länder zu den Vereinigten Staaten von Europa formen. Eigentlich! Doch praktisch haben aufgrund des Grundsatzkonfliktes zwischen den Euro-Nordländern und dem Euro-Club Med die Euro-Integrationskräfte eher nachgelassen und dafür die Euro-Zentrifugalkräfte zugenommen.

Vor diesem ernsten Hintergrund macht Europa das, was es immer macht, wenn es ernst wird: Wo ein politischer Wille, da auch ein politischer Weg. Typische politische Reformkompromisse, die der Euro-politischen Räson, aber weniger der ökonomischen Vernunft gehorchen. Es geht um politische Ruhe im Euro-Karton. Denn die eurozonale Statik ist derzeit so wackelpuddinghaft, dass man dicke Risse nach einem Grexit befürchtet.

Längerfristig sind aber willfährige Polit-Kompromisse, die permanent mit der ökonomischen Vernunft kollidieren, das süße Gift, das die Eurozone schleichend kaputt macht. Zum Schluss hat man damit weder den Grexit noch den Ausstieg der Eurozone aus sich selbst verhindert.

Der unaufhörliche Verfall der Stabilitätsmoral in der Euro-Politik

Ohne einen Grexit und damit einen wirklich reformierten Wirtschaftsboden wird es in Hellas trotz öffentlicher Investitionsmittel keine blühenden Landschaften gegen können. Stattdessen werden die Schulden Griechenlands weiter unaufhörlich wachsen. Die letzten beiden Hilfspakete lagen beide über 100 Mrd. Euro. Ich teile nicht den Optimismus der Euro-Politiker, dass gut 80 Mrd. Euro für drei Jahre reichen. Es wird wieder dreistellig werden. Auch die utopischen Erwartungen über zukünftige Primärüberschüsse im griechischen Staatshaushalt können darüber nicht hinwegtäuschen. Denn jetzt müssen auch noch die Banken rekapitalisiert werden und die letzten Monate haben in Griechenland noch mehr verbrannte Erde hinterlassen.

Bis das dritte Hilfspaket steht, braucht Hellas zudem Brückenfinanzierungen von etwa sieben Mrd. Euro. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Da leider kein Euro-Land zu bewegen war, Griechenland bilaterale Kredite zu gewähren, soll das Überbrückungsgeld aus dem Rettungsschirm „EFSM“ kommen, den es doch eigentlich seit 2010 gar nicht mehr gibt. Und eigentlich stellen EFSM-Zahlungen an Griechenland ein Verstoß gegen das Verbot dar, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht für die Schulden eines anderen EU-Staats aufkommen dürfen. Aber so wie der Teufel in der Not Fliegen frisst, werden in Europa zur Not Gesetze rechtsgebeugt.

Schulden streichen oder „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“

Wenn schließlich 2018 das dritte Hilfspaket ausgelaufen ist, wird Griechenland laut IWF doppelt so viele Schulden wie Wirtschaftsleistung haben. Und die Schulden wachsen noch weiter: Brüssel kann sich im Terminkalender für 2018 schon einmal eine Wiedervorlage eintragen: Da die griechische Wirtschaft in der Eurozone kaum wächst, muss nach dem dritten das vierte Hilfspaket kommen. Und spätestens dann schreit Griechenland zur Sicherung der Schuldentragfähigkeit nach einem Schuldenschnitt. Da könnte selbst Herkules nicht mehr helfen. 150 Mrd. Euro müssen gestrichen werden. Gegen einen klassischen Schuldenschnitt zu Lasten der wahlberechtigten Steuerzahler wehrt sich Berlin jedoch wie ein Nichtschwimmer gegen den Sprung in das tiefe Becken. Es wäre eine Einladung an andere Euro-Schuldensünder, genau dies auch für sich selbst einzufordern. „Bella Debito Italia“ könnte sich auf Schuldenstreichungen von knapp 200 Mrd. Euro freuen. Spätestens dann wäre die Eurozone stabilitätsmoralisch platt wie eine Flunder.

Alternativ müssen alle bisherigen und auch die neuen griechischen Hilfskredite mindestens 30 Jahre gestreckt und gleichzeitig die Schuldzinsen Griechenlands auf deutsches Niveau ähnlich eingefroren werden wie Fischstäbchen von Käpt’n Iglo. Das ist alles keine Marktwirtschaft mehr, das ist Planwirtschaft, nur um irgendwie der ökonomischen Vernunft politisch aus dem Wege zu gehen. Immerhin, ein Zeitgewinn ist da. Mit Glück ist mindestens bis zur Bundestagswahl 2017 über allen politischen Euro-Gipfeln Ruh.

Was heißt das für die Finanzmärkte?

Gemäß deutsch-französischem Euro-Disput wird die EZB weiter der Meister Proper, der große Euro-Ausputzer sein. Aus dieser Nummer kommt sie auch nicht mehr heraus.

Die Aktienkurse wird es einstweilen weiter antreiben. Die Liquiditätshausse ist damit so unsterblich wie die Helden der griechischen Mythologie. Dank Mario Draghi als gezwungener geldpolitischer Glattbügler Euro-politischer Falten bleibt die Alternativanlageform „Zinsvermögen“ weiter ohne jeden Sexappeal. Gegen einen DAX am Jahresende von ca. 12.200 Punkten spricht: Nichts!

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128

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