Eurozone: Was läuft und was noch laufen muss!

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Die positiven Entwicklungen der Eurozone werden regelmäßig nicht angemessen an den Finanzmärkten diskontiert. Ablesbar war das in den abgelaufenen gut drei Monaten an der Bewertung EUR/USD. Der Euro verlor seit Ende Mai von 1.2260 auf bis zu 1.1670, um sich zuletzt leicht auf 1.1860 zu erholen.

Die jetzige Bodenbildung hat gute Gründe. Zinsdifferenzen zu Gunsten des USD sind am Kapitalmarkt geringer geworden. Der Ansehensverlust der USA durch das Vorgehen bei dem Rückzug aus Afghanistan spielt als weicher Faktor eine ernst zu nehmende Rolle. Die Konjunkturdaten der Eurozone zeigten zuletzt eine bessere Widerstandskraft als die der USA.

Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht nur um konjunkturelle Daten handelt. Die strukturellen Daten sind im Kontext des Vergleichs der großen westlich geprägten Wirtschaftsräume in der Eurozone von besonderer Güte. Dabei geht es um den Kontext zwischen öffentlicher Neuverschuldung (NVS = Input) in Prozent des BIP im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung (=Output) als auch eines Blicks auf die Gesamtverschuldung (GVS). Vor der Corona-Krise war die Eurozone im Vergleich der westlichen Wirtschaftsräume bezüglich dieser Strukturgröße des sich selbst tragenden Wachstums Spitzenreiter. Im Verlauf der Corona-Krise kommt kein anderer westlicher Wirtschaftsraum qualitativ an die Eurozone heran.

© SOLVECON-INVEST GmbH, Daten IWF Fiscal Monitor 04/2021

Darüber hinaus reüssiert die Eurozone mit einer aktiven Handelsbilanz im Gegensatz zu den USA und dem UK als Ausdruck eines attraktiven und konkurrenzfähigen Angebots an internationalen Märkten. Die Güte der Strukturdaten stellt die Grundlage für die Entwicklung der Konjunkturdaten unter mittel-und langfristigen Gesichtspunkten dar.

Was heißt das für den Ausblick der Eurozone der kommenden Jahre? Der aktuelle Konjunkturverlauf wird definiert durch das Grundrauschen der Weltwirtschaft und Aufholeffekten, insbesondere im Investitionsgüterzyklus, der seit 2017 global unterproportional ausgefallen ist. Erst waren es die Angriffe Trumps auf das internationale Organigramm und diverse Länder, dann ab 2020 zusätzlich die Verunsicherung durch die Corona-Krise, die Investitionen unterproportional ausfallen ließen. Kontinentaleuropa, allen voran Deutschland, ist einer der Wirtschaftsräume, die stark von einem Anziehen des Investitionsgüterzyklus hinsichtlich der Komposition des Kapitalstocks profitiert. Mit Fokus auf die Zukunft stehen die politisch vereinbarten Wirtschaftsprogramme auf der Agenda. Zu großen Teilen geht es um Investitionstätigkeit. Die daraus resultierende Nachfrage kommt zusätzlich zum Grundrauschen der Weltwirtschaft und Aufholeffekten perspektivisch ab Mitte 2022 dazu.

Es erstaunt nicht, dass es in den letzten Monaten positive Prognoseanpassungen für die Eurozone gab. So bleibt die EU-Kommission aktuell für das Wirtschaftswachstum in Europa zuversichtlich. Mit Blick auf die derzeitigen Wirtschaftsdaten und Stimmungsindikatoren könnte das Wachstum laut Kommissionsmitglied Gentiloni noch stärker ausfallen als bisher prognostiziert Die Stimmung bei den Firmen sei gut. Die Wirtschaft hätte offenbar gelernt, mit den geringeren Pandemie-Einschränkungen zu leben. Die Kommission hatte ihre Wachstumsprognosen für die EU/Eurozone zuletzt im Juli um 0,6%/0,5% auf jeweils 4,8% erhöht.

Von meiner Seite kommt kein Widerspruch. Aktuelle Auftragsdaten aus Deutschland setzen neue Rekordwerte. Bereits per Juni 2021 lag der Auftragsbestand um 17% über dem Niveau vor der Pandemie. Die deutsche Industrie hat zusätzlich per Juli eine Rekordflut an Aufträgen erhalten. Das Neugeschäft wuchs um 3,4 Prozent zum Vormonat. Laut Statistischem Bundesamt erreichte der Auftragseingang damit seinen höchsten Stand seit dem Beginn der Zeitreihe im Jahr 1991. Hinsichtlich des zuvor dargestellten Hintergrunds im internationalen Investitionsgüterzyklus sind weitere Rekorde in den kommenden Monaten wahrscheinlich.

Kritisch sind die Lieferketten, beispielsweise bei Halbleitern. In der Tat schränkt das die Produktion ein. Jedoch verschiebt sie sich nur auf dem Zeitstrahl. So kann Volkswagen nach eigenen Angaben nicht mehr alle Bestellungen seiner Elektroautos der ID-Baureihe im laufenden Jahr erfüllen. Man läge in etwa bei drei bis sechs Monaten Lieferzeit für die Modelle der ID-Familie. Das erinnert an die 70er und 80er Jahre als Wartezeiten ganz normal waren. Was heute nicht produziert wird, wird dann morgen produziert!  Wie heißt es so treffend: Vorfreude ist die schönste Freude! So war es früher. Ich kann mich gut erinnern.

Auch der Arbeitsmarkt erholt sich unerwartet stark in Europa. Die Arbeitslosenquote steht derzeit bei 7,6%. Das Allzeittief lag direkt vor der Pandemie bei 7,3%. Ergo baut sich Kaufkraft in der Eurozone weiter auf. Das ist perspektivisch gut für den Konsum und den Dienstleistungssektor.

Das makroökonomische Bild ist damit strukturell und konjunkturell auf mittlere Sicht sehr positiv geprägt. Die Wirtschaft läuft. Das sollte helfen, die Defizitlagen der Staatshaushalte zügiger in den Griff zu bekommen, als derzeit unterstellt, definitiv zügiger als unsere westlichen Konkurrenten.

Dennoch gibt es auch strukturelle Probleme. Ich bedanke mich bei Paris und Rom, da Berlin mich seit 2015 weitgehend überhört. Frankreichs Finanzminister Le Maire bezeichnete die Entwicklung in Afghanistan als einen Weckruf für Europa. Europa müsse neben China und den USA die dritte Supermacht werden. Er sagte, dass Europa Bedrohungen ausgesetzt sei, man könne sich nicht mehr auf die USA verlassen. Le Maire rief Europa auf, den gemeinsamen Markt zu vertiefen, um technologisch unabhängig von Konzernen in Drittländern zu werden. Man könne politisch nicht souverän sein, wenn man bei Halbleitern, Batterien und Satelliten von Ausländern abhängig sei. Ähnlich hatte sich zuvor Italiens Innovationsminister geäußert. Le Maire nannte Bereiche, in denen Europa mit dem Ziel einer Führungsrolle investieren soll: Wasserstoff- und Cloud-Technologie, Künstliche Intelligenz, Halbleiter, die Erforschung des Weltraums, Satelliten und Bio-Technologie.

Ich freue mich, dass Paris und Rom diese Positionen (u.a. IT-Airbus) vertreten, die man aus meinem Forex Report seit 2015 kennt. Warum war und ist Berlin so zögerlich? Hört man den falschen „Experten“ zu?

Positive Erwartungen dürfen ob der Struktur- und Konjunkturlage obwalten. Für eine wirkliche Freiheit Kontinentaleuropas bedarf es echter Souveränität. Diese Baustelle ist groß. Weiteres Zögern verbietet sich, wenn man die europäischen Werte nicht zur Floskel verkommen lassen will.


Ein Beitrag von Folker Hellmeyer

Er hat am Finanzmarkt ursprünglich als Devisenhändler begonnen. Für Deutsche Bank und Helaba war er in Hamburg, London und Frankfurt tätig. Von 2002 bis 2017 war Hellmeyer Chefanalyst der Bremer Landesbank. Heute ist er als Chefanalyst der Fondsboutique Solvecon Invest.
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