Börsen bezahlen die Zukunft und ihre vielversprechenden Megathemen. So war es schon bei Internet, Social Media oder Krypto. Kein Wunder, regelmäßig in der Vergangenheit zündete jede neue Anlageidee hoffnungstrunken alle Kursraketen. Ebenso regelmäßig erfolgte am Ende aber der Kater der Kurs-Ernüchterung bis sich visionärer Anspruch und fundamentale Wirklichkeit – auch wegen Regulierungsangst – trafen. Ergeht es dem Thema KI ähnlich und wie sollten sich die Anleger verhalten?
Spätestens seit dem World Economic Forum in Davos ist KI in aller Munde. Wenn sich die Reichen und Mächtigen damit beschäftigen, muss an der Sache doch was dran sein, oder? Und tatsächlich kann sich doch eigentlich jeder Mensch etwas darunter vorstellen.
Das war bei früheren Anlagethemen ja nicht immer so. Ich erinnere mich, in den Anfängen der Internet-Ära in einer Analyse den Terminus „http“ verwendet zu haben. Damals glaubte mein Chef, ich hätte einen Rechtschreibefehler gemacht. Und es dauerte wirklich noch einige Zeit, bis die Massentauglichkeit des Internets u.a. mit der Unterstützung Boris Beckers erreicht wurde, der in einem Werbespot die legendäre Frage stellte: „Bin ich schon drin?“
Und Krypto? Einfach ist die Materie nicht. Begriffe wie Blockchain, Non-fungible Tokens, Mining, Stablecoins oder Wallets klingen so exotisch wie klingonische Sprache, die in den Star Trek-Filmen von den Bösen verwendet wird. Überhaupt erkennen viele Menschen nicht den Nutzen von Krypto.
Künstliche Intelligenz? Kenn ich!
Zwar ist KI auch nicht einfach zu definieren. Eine „Maschine“ bildet Entscheidungsstrukturen des Menschen automatisiert nach, damit sie alltägliche Probleme eigenständig lösen kann. Hinzu kommt, dass sie selbst lernt, dass sie Arbeitsabläufe auch ohne direkte Hilfe des Menschen permanent optimiert und weiterentwickelt.
Dennoch scheint künstliche Intelligenz sehr griffig zu sein. Sie begegnet uns doch überall. So weiß die Kaffeemaschine, dass sie um 6 Uhr morgens heißes Wasser über braunes Pulver zu gießen hat und die Heizung, wann wir uns wohlige Wärme wünschen.
Und mit den Matrix-Filmen sind wir über die künstliche Intelligenz der Maschinen im Bilde, selbst wenn sie dort die Menschen abhängig macht oder entmündigt. Und im Film „War Games“ von 1983 hätte ein selbstständig denkender Computer fast den III. Weltkrieg ausgelöst.
Das alles wird aber noch ziemlich ausgeblendet. Man schaut lieber auf die naheliegenden coolen Anwendungen der KI, die einen bisher unmöglichen Nutzen bieten. Ein Paradebeispiel sind sogenannte Chatbots wie ChatGPT, die die Art der Kommunikation revolutionieren. Nur recherchieren über Google? Nein, jetzt findet ein „Gespräch“ zwischen Mensch und Computer statt. Die Maschine wird zum umfassenden Dienstleister, der Komplettlösungen bietet, die bis dato den Menschen gefordert haben. So können sich Schüler Referate erstellen lassen, die auch von einem Nobelpreisträger stammen könnten.
Zum Valentinstag werden der Liebsten oder dem Liebsten romantische Liebesgedichte geschrieben, die auch von Rainer Maria Rilke stammen könnten. Oder es werden auf Partnerportalen Profile und Fotos „gefaked“, die die Person als Kombination aus Leonardo da Vinci, Marie Curie, Albert Einstein, James Bond oder Heidi Klum und Brad Pitt darstellen. Über die große Ernüchterung, wenn es zum Treffens in Präsenzform kommt, möchte ich mich hier nicht auslassen. Denn Avatare sind bislang nicht möglich.
Der Nutzen scheint unendlich zu sein. So werden „menschliche“ Roboter bereits in der Betreuung dementer Menschen eingesetzt. Und viele sind überzeugt, dass wir mit KI sogar den Klimawandel bewältigen. Überhaupt, im Wettstreit zwischen Amerika und China, wer zukünftig die globale Vorherrschaft besitzt, wird KI ein entscheidendes Kriterium sein.
Vermeintlich kann es sich der Mensch mit KI gemütlich machen. Die Arbeit erledigen die Maschinen, die für uns später, von Algorithmen ausgeklügelt, ebenso die richtigen persönlichen und unternehmerischen Entscheidungen treffen.
Gier und Angst werden auch KI im Griff haben
Angesichts dieser greifbaren, überzeugenden und vielfachen Anwendungen müsste KI eigentlich eine Gelddruckmaschine sein, das Geld müsste meterhoch auf dem Börsenparkett liegen, oder? Aber war es bei Internet, Social Media und Krypto nicht genauso?
Jetzt kommen immer mehr (selbsternannte) KI-Experten auf die Bühne, die uns einhämmern, warum KI die Anlagechance schlechthin ist. Und natürlich werden die sozialen Medien – völlig uneigennützig mit unzähligen Klicks – mithelfen, die neue „Sau“ durchs Dorf zu treiben. Und an Wall Street geben sich die IPOs, die neuen Glücksritter, die Klinke in die Hand. Im ewig jungen Spiel von Gier und Angst werden immer mehr Anleger auf den KI-Schnellzug aufspringen. Wie gesagt, der Nutzen liegt doch offensichtlich auf der Hand.
Irgendwann werden kritische Stimmen laut, die einwenden, dass viele Startups, die „new kids on the Wall Street-bloc“ nur Blender sind. Aber wenn selbst Aktien von Ramschläden, deren Intelligenz tatsächlich nur künstlich ist, unwiderstehlich steigen, sich verdoppeln, verdreifachen oder verzehnfachen, muss die Börse doch Recht haben. Die Hausse nährt die Hausse. So war es auch 1998/99 zur Hochzeit des neuen Markts, als kritische Analysten nur Rufer in der Wüste waren.
Irgendwann kommt es doch zum Showdown. Wie 2022 bei Krypto-Anlagen bricht der auf Sand gebaute, zu hohe Turm zu Babel ein. Nach Gier kommt eben Angst und in einem allgemeinen Blutbad werden zunächst auch die fundamental starken Titel geschlachtet. Erst nach der Flurbereinigung hat sich die Spreu vom Weizen getrennt. „Nur die Harten kommen in den Garten.“
Und was sollten Anleger jetzt tun? So wie früher bei Internet und heute bei Social Media haben wir es ebenso bei KI mit langfristig starken Geschäftsmodellen zu tun. Daher wird es auch zu Übernahmen von kleinen vielversprechenden Firmen durch große kommen, um Entwicklungskosten zu sparen bzw. Konkurrenz vom Markt zu nehmen. Das wird KI zusätzliches Kurspotenzial verleihen.
Aber wie immer geht es darum, wann Anleger investieren sollten. Die Börsen-Historie zeigt aber, dass es verdammt schwer ist, die optimalen Kaufzeitpunkte zu treffen.
Da helfen zwei Dinge. Erstens sollten Anleger überschaubare Summen in fundamental abgeklopfte Einzeltitel investieren. Zweitens sollte man regelmäßig in die Materie anlegen, um vernünftige Durchschnittskurse zu erhalten. An Fonds und ETFs, die wie Spargel im Frühjahr sprießen werden, wird es nicht mangeln.
Also, wenn KI die neue Sau ist, die durchs Börsen-Dorf getrieben wird, muss man den großen Wirbel ja nicht mitmachen. Aufmerksame Mitläufer sollten die Anleger aber durchaus sein.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
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